Die kalte Legende
Mrs. Sayles setzte sie auf, nahm die Postkarte und hielt sie ins Sonnenlicht, das durch ein Erkerfenster strömte. »Ich kenne die Amish auf der White Creek Road ganz gut, weil meine Familie ja mit der Käsefabrik zu tun hat. Hm.« Mrs. Sayles spitzte die Lippen. »Aber die hier auf dem Bild sagen mir leider nichts.«
»Was ist mit dem Haus und der Scheune?«, fragte Martin, der jetzt hinter sie getreten war und erst auf die beiden dicht nebeneinander stehenden Farmhäuser zeigte, dann auf die Scheune mit dem Mansardendach auf einer Anhöhe gegenüber.
»Kenne ich auch nicht, weder die Häuser noch die Scheune. Allerdings wohnen auch noch jede Menge Amish-People auf den kleinen Nebenstraßen, die von der White Creek Road abgehen.«
Plötzlich fiel Mrs. Sayles etwas ein. »Ich kenne da einen Burschen, der heißt Eklanah Macy und arbeitet als Hausmeister in der Valleyview Amish School auf der Ramsey Road. Außerdem verdient er sich noch was dazu, als Mädchen für alles bei den Amish in der Gegend um die White Creek Road. Wenn einer Ihnen helfen kann, dann er. Sagen Sie Eklanah aber unbedingt, dass ich Sie geschickt habe.«
Eklanah Macy entpuppte sich als Navy-Unteroffizier a.D., der in seinen zwanzig Jahren beim Militär auf der Hälfte aller Kriegsschiffe der US-Marine gedient hatte, wenn man den gerahmten Fotos an der Wand glauben durfte. Er hatte den Werkraum im Keller der Schule in eine Nachbildung einer Schiffswerkstatt verwandelt, Pin-up-Fotos inklusive. »Lelia hat Sie hergeschickt?«, sagte Macy und sog an einer durchweichten Selbstgedrehten, während er seine Besucher mit zusammengekniffenen Augen ins Visier nahm. »Wette, sie hat Ihnen das dämliche Lügenmärchen aufgetischt, Dave Sanford wäre ihr Urururgroßopa gewesen. Mann, das erzählt sie jedem, den sie lange genug zu fassen kriegt. Wenn man ihr zuhört, hat man den Eindruck, dass jeder, der in Belfast irgendwas auf die Beine gestellt hat, mit ihr verwandt war – Sanfords Sägewerk am Genesee, die alte Käsefabrik an der White Creek Road. Wette, sie hat auch was von ihren blöden Gespenstern unterm Dach gefaselt. Ha! Lassen Sie sich eins von mir gesagt sein, und ich weiß, wovon ich spreche: Die Lady hat eine lebhafte Phantasie. Fest steht, die ersten Sayles bei uns im Allegheny County waren Kredithaie, die in den vierziger Jahren billig Farmhäuser aufgekauft haben, um sie anschließend mit stattlichem Gewinn an die GIs weiterzuverkaufen, die aus dem Krieg zurückkamen. Was wollen Sie denn über die Amish drüben an der White Creek Road wissen?«
Martin zeigte Mr. Macy die Ansichtskarte. »Sie wissen nicht zufällig, wo wir diese Häuser finden könnten, oder?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Kommt ganz drauf an.«
»Worauf denn?«, fragte Stella.
»Darauf, wie viel Sie für die Information springen lassen.«
»Sie reden nicht lange um den heißen Brei herum«, erwiderte Stella.
»Ach wissen Sie, lange drum rum reden kostet nur Zeit und Geld.«
Martin hielt ihm einen Fünfzigdollarschein hin. »Was kriegen wir dafür?«
Macy riss ihm den Schein aus den Fingern. »Die beiden Farmhäuser mit der Scheune direkt gegenüber liegen etwa drei, dreieinhalb Meilen außerhalb an der McGuffin Ridge Road. Sie verlassen Belfast auf der South Main und kommen automatisch auf die Route 19. Die kreuzt irgendwann die 305, und eine halbe Meile weiter treffen Sie auf die White Creek Road nach Friendship. Die Straße verläuft ein gutes Stück parallel zum White Creek, dem Flüsschen, nach dem sie benannt ist. Kurz vor Friendship geht die McGuffin Ridge Road ab. Sie müssten schon blind sein, um sie zu verfehlen.«
Martin hielt wieder einen Fünfzigdollarschein hoch. »Genau genommen suchen wir nach einem alten Kumpel von mir, der in eins der Farmhäuser in der Gegend gezogen sein soll.«
»Ist er ein Amish?«
»Nein.«
»Dann dürfte das nicht schwierig sein.« Macy schnappte sich den zweiten Geldschein. »Wenn irgendwo hier in der Gegend Amish-People einziehen, holen die mich, damit ich ihnen die Stromleitung abklemme. Die Amish halten nichts von Strom und elektrischen Geräten – Kühlschränke, Fernseher, Nähmaschinen, Bügeleisen und so weiter. Wenn an einem Haus der Stromzähler abgeklemmt ist, weiß man gleich, dass da Amish drin wohnen. Wenn er noch angeschlossen ist, wohnt da bestimmt ein Nicht-Amish.«
»Und leben an der McGuffin Ridge Road viele Nicht-Amish?«, fragte Martin.
Als der Hausmeister sich ratlos das unrasierte Kinn
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