Die kalte Legende
haben dieselben Leute auf dich geschossen, die Kastner und deine chinesische Freundin Minh auf dem Gewissen haben.«
»Möglicherweise. Der Oligarch hat einen langen Arm. Aber das werden wir wohl nie mit Sicherheit wissen.«
»Ach, Martin, ich glaube, ich habe Angst …«
»Da geht’s dir wie mir.«
Die langen Schatten kurz vor Sonnenuntergang streckten langsam ihre Tentakel über die Felder aus. Martin, der seinen eigenen Gedanken nachhing, sagte: »Du hast meine Sicht auf die Dinge verändert, Stella. Bis vor kurzem hatte ich noch fest vor, mich für den Rest meines Lebens zu Tode zu langweilen.«
»Für jemanden, der sich für den Rest seines Lebens zu Tode langweilen wollte, hast du aber ein ganz schön aufregendes Leben geführt.«
»Hab ich?«
»Qiryat Arba, London, Prag, die Insel im Aralsee, dieses litauische Städtchen, wo die Leute sich darum geprügelt haben, wer die Gebeine von irgendeinem unbekannten Heiligen behalten darf. Und dann die ganze Geschichte mit Prigorodnaja und der sieben Kilometer langen Straße, die dahin führt. Ein langweiliges Leben sieht anders aus.«
»Das Aufregendste hast du vergessen.«
»Was denn?«
»Dich.«
Stella schmiegte das Gesicht an seinen Hals.
Die Sonne war hinter den Hügeln im Westen verschwunden, und ein rötlich grauer Hauch breitete sich über ihnen am Himmel aus, als sie zwei Autoscheinwerfer die McGuffin Ridge Road hochkommen sahen. Martin stand auf und zog Stella hoch. Kurz vor den beiden Farmhäusern verlangsamte der Wagen das Tempo und bog von der Straße zur Scheune ab. Ein Mann stieg aus und zog das Scheunentor auf, dann fuhr er den Wagen hinein und schloss das Tor wieder.
Augenblicke später ging an einem der beiden Häuser auf der anderen Straßenseite eine Verandalampe an. Der Mann betrat das Haus. Im Parterre wurden die Fenster hell. Martin und Stella sahen sich an.
»Geh bitte kein Risiko ein«, sagte Stella tonlos. »Wenn er bewaffnet ist, erschieß ihn, dann kriegt meine Schwester eben keine Scheidung.«
Martin lächelte zum ersten Mal an dem Tag. »Bist du sicher, dass du für den KGB nur Witze erzählt hast? Bist du sicher, dass du keine Spezialistin fürs Grobe warst?«
»Fürs Grobe?«
»Mord.«
»Ich habe Mordswitze erzählt, Martin. Weißt du was? Jetzt bin ich noch nervöser als letzte Nacht. Bringen wir’s hinter uns.«
Es war schon fast richtig dunkel, als sie den weißen Mittelstreifen entlang auf die beiden Häuser zugingen. Irgendwo hinter ihnen bellte ein Hund, woraufhin weitere Hunde in der Gegend ein Heulkonzert anstimmten. Durch die Verandafenster im zweiten Haus sah Martin die Amish-Familie bei Kerzenlicht an einem langen gedeckten Tisch sitzen. Alle senkten den Kopf, während der bärtige Mann am Kopfende ein Gebet sprach. Martin vergewisserte sich, dass die Tula-Tokarev entsichert war, schlich dann vor Stella die Verandatreppe hoch und drückte sich auf einer Seite der Tür an die Hauswand. Er bedeutete Stella zu klopfen.
Der Mann, der in dem Haus wohnte, rief mit starkem russischem Akzent: »Bist du das, Zaccheus? Ich hab doch gesagt, du sollst das Essen erst um acht bringen. Ihr Amerikaner esst mir einfach zu früh zu Abend.« Die Tür öffnete sich, und ein hagerer Mann, dessen dichter Vollbart fast das gesamte Gesicht bedeckte, so dass nur seine seetanggrünen Augen zu sehen waren, betrachtete Stella durch die Fliegengittertür. Die Verandalampe an der Decke war ein wenig hinter ihr, und ihr Gesicht lag im Schatten.
»Wer sind Sie?«, fragte er. »Was haben Sie um diese Uhrzeit hier zu suchen?«
Stella hauchte: » Priwijet, Samat.«
Samat keuchte auf. » Ty « , flüsterte er. » Schto ty sdes delajesch? «
Stella blickte Samat direkt in die Augen. »Er ist es«, sagte sie.
Martin trat vor und zielte mit der alten Tula-Tokarev auf Samats Solarplexus, Stella öffnete die Fliegentür, und Martin trat über die Schwelle. Samat wich zurück in den Raum, und Speichelbläschen bildeten sich in einem Mundwinkel zwischen den dünnen Lippen. Er breitete weit die geöffneten Hände aus, fast wie zum Gruß. »Josef, Gott sei Dank, du lebst noch.« Er fing an, Fragen auf Russisch zu stellen. Martin wusste, dass Josef, wie Stella und Samat, Russisch sprach. Er, Martin jedoch, konnte zwar einzelne oder mehrere Wörter hintereinander verstehen, manchmal sogar den Kern eines Satzes, aber zu einem ganzen Gespräch auf Russisch wäre er nicht imstande gewesen. Er fiel Samat mitten im Satz ins Wort. »Wir sind hier in
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