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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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nach Jerusalem brachte, könnte ein Mitarbeiter des Shabak sein, sagten weder Martin noch Stella ein Wort. Außerdem fürchteten sie, dass ihre Gefühle sie übermannen würden, wenn einer von ihnen das tröstliche Schweigen brach. Fünfzig Minuten nach Verlassen des Flughafens standen sie an einer Straßenecke im Zentrum von Jerusalem. Um sie herum tobte der morgendliche Verkehr. Trupps von Soldaten, darunter dunkelhäutige Äthiopier mit grünen, kugelsicheren Westen und grünen Baretts, patrouillierten in den Straßen und überprüften die Papiere von jungen Männern, die arabisch aussahen. Martin ließ sechs Taxis passieren, bevor er das siebte heranwinkte. Sie fuhren zum American Colony Hotel in Ostjerusalem, vor dem eine lange Schlange palästinensischer Taxis wartete. Vor dem Hotel wurde ein junger russischer Schachspieler, der zu einem Turnier angereist war, von Fernsehkameras gefilmt. Er stand über die Motorhaube eines Wagen gebeugt, auf der ein Schachspiel aufgebaut war, und bewegte die Figuren in raschen Zügen, während er leise über einen Fehler in der schwarzen Position schimpfte oder die Schwäche eines weißen Angriffs beklagte. Schließlich sah er eine Öffnung und rückte die weißen Figuren fröhlich zur entscheidenden Attacke vor, dann blickte er auf und erklärte auf Englisch, dass Schwarz angesichts der erdrückenden weißen Übermacht aufgegeben habe.
    »Wie kann er gegen sich selbst spielen, ohne verrückt zu werden?«, fragte Stella.
    »Gegen sich selbst zu spielen hat den Vorteil, dass man immer weiß, wie der nächste Zug des Gegners aussieht, anders als im wirklichen Leben«, bemerkte Martin.
    Er ließ die ersten drei Taxis mit Fahrgästen abfahren, ehe er dem vierten winkte. »Mustaffah, stets zu Ihren Diensten«, sagte der junge palästinensische Fahrer, als er ihr Gepäck in den gelben Mercedes lud, der allem Anschein nach schon mehr Jahre auf dem Buckel hatte als der Fahrer. »Wo soll’s hingehen?«
    »Qiryat Arba«, sagte Stella.
    Die Begeisterung wich aus Mustaffahs Augen. »Das kostet hundertzwanzig Schekel oder dreißig Dollar«, sagte er. »Ich bringe Sie nur bis zum Haupttor. Die Juden lassen kein arabisches Taxi rein.«
    »Einverstanden«, sagte Martin, als er und Stella auf dem rissigen Leder der Rückbank Platz nahmen.
    Mustaffahs Plastikperlschnur, die am Rückspiegel baumelte, schlug klackernd gegen die Windschutzscheibe, als das Taxi durch festungsähnliche israelische Wohnstraßen an Scharen orthodoxer Juden vorbeifuhr, bis sie Jerusalem schließlich auf einer Landstraße verließen, die sich nach Süden ins Judäische Bergland hineinfraß. Auf den felsigen Hängen zu beiden Seiten der Straße waren Gruppen palästinensischer Männer zu sehen, die, um die Checkpoints zu vermeiden, über Trampelpfade ins jüdische Jerusalem gingen, weil sie hofften, dort für einen Tag Arbeit zu finden. In den Wadis waren Jungen hoch oben in die Bäume geklettert. Sie pflückten Oliven und stopften sie sich in die offenen Hemden.
    »Vorhin am Flughafen hast du das Schicksal ganz schön herausgefordert«, sagte Martin. »Ich meine, als du angefangen hast, dir die Bluse aufzuknöpfen, um Asher die Tätowierung zu zeigen. Was hättest du gemacht, wenn er dich nicht davon abgehalten hätte?«
    Stella rückte so dicht an Martin heran, dass ihr Oberschenkel seinen berührte; sie brauchte dringend Trost. »Ich glaube, ich kann Menschen ganz gut einschätzen«, erwiderte sie. »Ich wusste instinktiv, dass er mich davon abhalten oder wenigstens wegsehen würde.«
    »Und was ist mit mir?«, fragte Martin. »Hast du gedacht, ich würde auch wegsehen?«
    Stella starrte durch das schmutzige Fenster und dachte daran, wie sie sich beim Abschied an Kastner geklammert hatte. Er hatte dann seinen Rollstuhl abrupt gewendet, aber sie hatte trotzdem noch die Tränen gesehen, die ihm in die Augen schossen. Sie blickte Martin an. »Entschuldigung. Ich war in Gedanken woanders. Was hast du gesagt?«
    »Ich habe gefragt, ob du gedacht hast, ich würde auch wegsehen, als du dir die Bluse aufgeknöpft hast.«
    »Ich weiß nicht«, gab sie zu. »Ich bin noch nicht ganz schlau aus dir geworden.«
    »Wo liegt das Problem?«
    »An bestimmte Bereiche von dir kommt mein Instinkt einfach nicht ran. Dein wahrer Kern liegt unter zu vielen Schichten verborgen – fast so, als wärst du verschiedene Menschen gleichzeitig. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob du dich für Frauen interessierst. Ich bin nicht sicher, ob du mich

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