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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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schüttelte heftig den Kopf, bevor sie in Tränen ausbrach und sich wieder in die Arme ihrer Schwester warf. Der Fahrer des Pick-up, ein untersetzter, bärtiger Mann in den Fünfzigern, der schwarze Turnschuhe, einen schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte und einen schwarzen Filzhut trug, kam auf Martin zu und musterte ihn durch eine fensterglasdicke Nickelbrille.
    » Schalom, Mr. Martin Odum«, sagte er mit einem unverkennbaren Brooklyner Akzent. »Ich bin Rabbi Ben Zion. Sie müssen Stellas Detektiv sein. Hab ich Recht?«
    »Ich bin ein Detektiv und ein Freund«, sagte Martin.
    »Ich bin der Rabbi, der Ya’ara mit Samat verheiratet hat«, erklärte Ben Zion. »Wenn Sie Samat ausfindig machen wollen, damit Ya’ara die religiöse Scheidung erhält, sind Sie mir willkommen. Wenn nicht, dann nicht.«
    »Woher wissen Sie, dass ich Detektiv bin? Und dass ich Samat suche?«
    »Ein kleines Vögelchen hat es jemandem beim Shabak geflüstert, und dieser Jemand hat mir erzählt, dass zwei Touristen, die sich für nichts anderes als Qiryat Arba interessieren, bei uns auftauchen könnten. Und Wunder über Wunder, da sind Sie.« Der Rabbi hob eine Hand, um die Augen gegen die Mittagssonne abzuschirmen, und betrachtete den Detektiv aus Brooklyn von Kopf bis Fuß. »Sie sind kein Jude, Mr. Odum.«
    Hinter ihnen gingen die beiden Schwestern Arm in Arm den Hügel hinauf. Martin sagte: »Woran haben Sie das erkannt?«
    Rabbi Ben Zion deutete mit dem Kinn in Richtung Hebron, das durch die flimmernde Hitze, die aus dem Tal unter ihnen aufstieg, zu sehen war. »Wer in einem Meer von Arabern lebt, erkennt seinesgleichen auf Anhieb.«
    »Mit anderen Worten, es ist eine Instinktsache.«
    »Überlebensinstinkt, im Laufe von zweitausend Jahren entwickelt.« Der Rabbi warf die beiden Koffer auf die Ladefläche des Pick-up. »Steigen Sie ein«, befahl er. »Ich bringe Sie zu Ya’aras Wohnung. Wir sind vor den Frauen da und setzen schon mal Teewasser auf. Und wir zünden eine Gedenkkerze für Ya’aras Vater an – das Vögelchen hat mir nämlich auch erzählt, dass er gestorben ist, aber ich hielt es für besser, wenn Stella ihrer Schwester die traurige Nachricht selbst überbringt. Wenn Sie nett fragen, erzähle ich Ihnen, was ich über den verschwundenen Gatten weiß.«
    Der Rabbi legte den Gang ein und donnerte mit wippenden Schläfenlocken den Hügel hinauf, vorbei am Postamt der Siedlung, vorbei an dem Einkaufzentrum, wo sich Frauen in knöchellangen Röcken und kleine Jungen mit gestrickten Jarmulken auf dem Kopf drängelten. Ya’ara wohnte in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Parterre eines Hauses mit Blick auf Hebron. »Als ihr Mann sie verlassen hatte, war sie völlig mittellos, deshalb hat unsere Synagoge sie unter ihre Fittiche genommen«, erklärte der Rabbi. Er suchte an einem Schlüsselbund, bis er den richtigen fand, und schloss die Tür auf. Die Wohnung war spartanisch eingerichtet. In einem Zimmer stand ein schmales Bett, darüber an der Wand hing ein gesprungener Spiegel, der ringsum mit Plastikmuscheln verziert war, und eine umgedrehte Holzkiste diente als Nachttisch. Das Mobiliar im Wohnzimmer bestand aus einem Ausziehtisch, auf dem ein Wachstuch ausgebreitet war, sowie aus einer kunterbunten Ansammlung von Klappstühlen mit einem Schwarzweißfernseher auf einem davon. Auf einem halbhohen Bücherregal, das den Wohnbereich von einer winzigen Kochnische abtrennte, standen drei Blumentöpfe mit Plastikgeranien. Martin öffnete die Tür zu dem kleinen Badezimmer. An einer Kordel über der Badewanne hingen Damenunterwäsche und etliche Paar langer Wollstrümpfe. Ben Zion bemerkte Martins Gesichtsausdruck, als er zurück ins Wohnzimmer kam. »Die Möbel haben wir Arabern abgekauft, deren Häuser zwischen uns und Hebron standen und abgerissen wurden, damit wir sicher zur Höhle von Machpela gehen können.«
    Martin trat ans Fenster, zog die Jalousie hoch und blickte hinaus auf das Gewirr von Hebrons Straßen und Häusern. »Was ist die Höhle von Machpela?«, fragte er über die Schulter hinweg.
    Der Rabbi war in der Küche und versuchte, mit einem Streichholz den Gasbrenner für das Teewasser anzuzünden. »Ich hör wohl nicht richtig? Was die Höhle von Machpela ist? Nichts Geringeres als der zweitheiligste Ort für Juden auf dem Planeten Erde, gleich nach dem Tempelberg oder was davon übrig ist, der Klagemauer. Hebron – das in biblischer Zeit ebenfalls Qiryat Arba hieß – ist der Ort, wo Stammvater Abraham begraben

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