Die kalte Legende
erklären«, sagte sie.
Eine von den Soldatinnen in einem besonders kurzen Minirock kam mit einem Tablett herein, auf dem eine Kanne heißer Tee und zwei Tassen standen. Sie stellte es auf den Tisch. Asher raunte ihr etwas auf Hebräisch zu. Beim Hinausgehen bedachte sie die beiden Besucher mit einem Blick über die Schulter und lächelte.
»Wenn Sie es erklären können, erklären Sie’s«, forderte Asher Stella auf. Er füllte die beiden Tassen und schob sie über den Tisch seinen Besuchern zu.
Martin fragte Stella. »Was hast du für den KGB gemacht?«
»Ich war keine Spionin oder so«, erwiderte sie. »Kastner war stellvertretender Leiter des Sechsten Hauptdirektorats, bevor er übergelaufen ist. Das Direktorat war in erster Linie für Wirtschaftsverbrechen zuständig, brachte aber irgendwann auch Abteilungen unter, für die in anderen Direktoraten kein Platz war. Die Fälscher zum Beispiel hatten ihre Büros im Sechsten Hauptdirektorat, und ihr Etat wurde aus dem Gesamtetat des Direktorats bezahlt. Das Gleiche galt für die Abteilung, die am Reißbrett Waffen entwickelte, die gar nicht gebaut werden sollten, um die Pläne dann den Amerikanern in die Hände zu spielen, damit die unnütze Energien darauf verschwendeten, mit uns Schritt zu halten. Ich war Englischlehrerin an einer Mittelschule, als Kastner mir einen Job in einer Abteilung anbot, die so geheim war, dass nur eine Hand voll Parteileute außerhalb des Kremls von ihr wussten. Intern hieß sie ›Unterabteilung Marx‹, aber nach Groucho, nicht nach Karl. Da saßen rund um die Uhr zwei Dutzend Mitarbeiter an einem langen Tisch zusammen, schnitten aus Zeitungen und Zeitschriften Artikel aus und ließen sich antisowjetische Witze einfallen –«
Asher stand die Skepsis ins Gesicht geschrieben. »Ich hab in meinem Leben ja schon so manche unglaubliche Geschichte gehört, aber das schießt wirklich den Vogel ab.«
»Lassen Sie sie weitererzählen.«
Stella fuhr fort. »In den Augen des KGB war die Sowjetunion ein Dampfkessel, und die Unterabteilung Marx war das kleine Ventil, durch das man den Druck entweichen lässt. Ich und ein paar andere junge Frauen kamen jeden Freitag und lernten die Witze auswendig, die sich die Unterabteilung die Woche über ausgedacht hatte. Wir hatten Spesenkonten – am Wochenende gingen wir in Restaurants, in Komsomol-Clubs, Arbeiterkantinen oder auf Dichterlesungen und erzählten die Witze herum. Einmal haben sie eine Studie gemacht und herausgefunden, dass ein guter Witz, der in Moskau zum ersten Mal erzählt wurde, binnen sechsunddreißig Stunden die Halbinsel Kamtschatka an der Pazifikküste erreichen konnte.«
»Geben Sie uns ein Beispiel, was Sie für Witze in Umlauf gebracht haben«, verlangte Asher, der noch immer an der Geschichte zweifelte.
Stella schloss die Augen und überlegte einen Moment. »Als in Polen gegen die dortige Stationierung von sowjetischen Truppen protestiert wurde, hab ich die Geschichte von dem jungen Polen erzählt, der in eine Warschauer Polizeiwache stürmt und ruft: ›Schnell, schnell, Sie müssen mir helfen. Zwei Schweizer Soldaten haben mir meine russische Uhr gestohlen.‹ Der Wachtmeister ist verdutzt und sagt: ›Du meinst, zwei russische Soldaten haben dir deine Schweizer Uhr gestohlen.‹ Und der Junge erwidert: ›Stimmt, aber das haben Sie gesagt, nicht ich!‹«
Als weder Martin noch Asher lachte, sagte Stella: »Damals fanden das alle lustig.«
»Fällt dir noch einer ein?«, fragte Martin.
»Einer unserer erfolgreichsten Witze war der, wo sich zwei Apparatschiks der KP in Moskau auf der Straße treffen. Sagt der eine: ›Hast du schon das Neueste gehört? Unsere Wissenschaftler haben es geschafft, nukleare Sprengköpfe zu verkleinern. Wir brauchen keine teuren Interkontinentalraketen, um Amerika auszuradieren. Wir packen den nuklearen Sprengkopf einfach in einen Handkoffer und deponieren ihn in einem Schließfach am New Yorker Hauptbahnhof. Und wenn uns die Amerikaner Ärger machen, pffft, ist von New York nur noch radioaktive Asche übrig.‹ Darauf der andere: › Njewosmoschno. Unmöglich. Wo sollen wir denn in Russland einen Handkoffer auftreiben?‹«
Stellas Witz erinnerte Martin an eine Situation aus seiner früheren Legende: Lincoln Dittmanns Unterhaltung mit einem Saudi im Dreiländereck Paraguay-Brasilien-Argentinien. Der Saudi hatte sich für eine sowjetische nukleare Kofferbombe interessiert. Irgendwie konnte er übers Stellas Witz nicht lachen. Asher
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