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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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verführen willst oder nicht. Das ist ein Punkt, über den Frauen Klarheit haben müssen, bevor sie mit einem Mann ein Arbeitsverhältnis aufbauen können.«
    »Das will ich nicht«, sagte Martin ohne Zögern. »Das Problem bei Frauen im Allgemeinen und dir im Besonderen ist, dass ihr unfähig seid, Komplimente entgegenzunehmen, ohne gleich Verführungsabsichten dahinter zu vermuten.« Martin dachte an Minh, wie sie es an ihren seltenen gemeinsamen Abenden immer wieder geschafft hatte, sein unwilliges Fleisch zu erregen. Er fragte sich, ob ihr Tod auf dem Dach über dem Billardsaal wirklich ein Unfall gewesen war.
    »Ich sage dir, was Sache ist, Stella: Ich habe mit Verführung nichts mehr am Hut. Wenn ich in die Ecke getrieben werde, interessiert mich Liebe nicht, dann kämpfe ich.«
    »Aus dir spricht nur der Schmerz«, flüsterte Stella und dachte an ihren eigenen Schmerz. »Du solltest vielleicht mal darüber nachdenken, dass Nähe ein Mittel gegen Schmerz sein kann.«
    Martin schüttelte den Kopf. »Meiner Erfahrung nach bauen Menschen Nähe auf, um Sex zu haben. Sobald sich das mit dem Sex erledigt hat, sorgt Nähe für zusätzlichen Schmerz.«
    Stella rückte wieder von ihm weg und schnaubte verärgert: »Das ist typisch Mann, für euch ist Nähe nur ein Mittel, um Sex zu haben. Frauen sind da etwas feinfühliger – für sie ist Sex ein Mittel, um Nähe zu bekommen. Frauen wissen, dass Nähe zum anderen der größte Orgasmus überhaupt ist, weil sie es ermöglicht, aus dem Gefängnis rauszukommen, das sich jeder selbst errichtet hat. Sex, der zu Nähe führt, ist ein Gefängnisausbruch.«
    Mustaffah bremste an einem israelischen Checkpoint, wurde aber durchgewunken, als zwei Soldaten durchs Fenster spähten und die beiden Passagiere für Juden auf dem Rückweg in eine der Siedlungen hielten. Das Taxi fuhr an Straßenständen mit Bergen von Orangen und Zucchinis vorbei, an Imbissbuden, in denen Kebab an Spießen röstete, und an Werkstätten mit aufgebockten Autos, unter denen Mechaniker flach auf dem Rücken lagen. Er bremste erneut für eine Schafherde, die auseinander stob, als Mustaffah auf die Hupe drückte. Junge arabische Frauen mit Babys auf dem Rücken und ältere Frauen in langen Gewändern mit Bündeln auf dem Kopf wandten den Kopf ab, um keinen Staub ins Gesicht zu bekommen, wenn der Mercedes vorbeibrauste.
    Eine halbe Stunde, nachdem sie Jerusalem verlassen hatten, erreichte das Taxi Qiryat Arba und hielt neben einem Schild mit der Aufschrift: Zionistische Siedlung. Martin sah, dass zwei Wachposten sie argwöhnisch beobachteten. Beide waren mit Uzis bewaffnet, und unter ihren kugelsicheren Westen lugten die rituellen zizijot, die Quasten, hervor. Während Stella das Gepäck aus dem Kofferraum des Taxis holte, ging Martin ans offene Seitenfenster, um Mustaffah zu bezahlen. Von einem Minarett weiter unten trieb der vom Tonband abgespielte klagende Ruf des Muezzin, der die Gläubigen zum Mittagsgebet aufforderte, zur jüdischen Siedlung herüber. Als Martin drei Zehndollarscheine durch das Fenster reichte, bemerkte er, dass der Fahrerausweis am Handschuhfach zwar ein Foto von Mustaffah zeigte, aber auf den Namen Azzam Khouri ausgestellt war.
    »Wieso haben Sie gesagt, Sie hießen Mustaffah?«, fragte er.
    »Mustaffah war mein Bruder, er wurde während der Intifada von der israelischen Armee getötet. Wir haben jüdische Panzer mit Steinen beworfen, und die Soldaten wurden wütend und haben uns beschossen. Seitdem nennt meine Mutter mich Mustaffah, so kann sie sich vorstellen, mein Bruder würde noch leben. An manchen Tagen nenne ich mich selbst Mustaffah, aus dem gleichen Grund. Und an anderen Tagen weiß ich nicht mehr genau, wer ich bin. Heute ist so ein Tag.«
    Die Wachen am Tor nahmen die Pässe der Besucher in Augenschein. Als Stella erklärte, sie sei gekommen, um ihre Schwester Ya’ara Ugor-Shilow zu besuchen, riefen sie in der Siedlung an, die sich mit ihren steinernen Apartment- und Einfamilienhäusern wie Lava über etliche einst kahle Hänge hinunter auf die arabische Stadt Hebron zuwälzte. Minuten später tauchte oben auf dem Hügel ein zerbeulter Pick-up auf und rollte dann langsam mit häufigen Fehlzündungen an dem Spielplatz vorbei, auf dem es von Müttern und Kindern wimmelte, auf das Tor zu. Gleich darauf lagen sich Stella und ihre Schwester in den Armen. Martin sah, wie Stella leise auf Elena, oder Ya’ara, wie sie sich jetzt nannte, einsprach. Diese wich einen Schritt zurück,

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