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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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liegt, ebenso seine Söhne Isaak und Jakob und seine Frau Sarah. Den Palästinensern ist sie ebenfalls heilig. Sie haben unseren Abraham nämlich als einen ihrer Propheten eingeheimst und an der Stelle eine Moschee gebaut. Jetzt sind wir gezwungen, uns beim Beten mit ihnen abzuwechseln.« Der Rabbi hatte den Brenner entzündet und setzte den Kessel auf. Er schüttelte ungläubig den Kopf, während er mit einem weiteren Streichholz eine Kerze ansteckte und sie ins Zimmer trug. »Was ist die Höhle von Machpela?«, murmelte er vor sich hin und stellte die Kerze auf den Tisch. »Selbst ein schegez sollte die Antwort darauf kennen. Wir gehen jeden Freitag bei Sonnenuntergang zu der Höhle, um an der heiligen Stätte den Schabbat zu begrüßen. Sie und Stella sind herzlich eingeladen, uns dahin zu begleiten – so könnt ihr dem Shabak wenigstens erzählen, dass ihr doch ein bisschen Sightseeing gemacht habt.«
    Martin fand, dass es an Smalltalk reichte. »Was ist mit Samat?«
    »Was soll mit ihm sein?«, fragte Rabbi Ben Zion.
    »Ist er mit einer anderen Frau abgehauen?«
    »Ich werde Ihnen mal was sagen, mein lieber Privatdetektiv aus Brooklyn, der offenbar denkt, Männer würden ihre Frauen nur wegen einer anderen Frau verlassen. Samat hatte das nicht nötig – er hat sich nämlich so viele Frauen gemietet, wie seine Libido verlangte. Wenn er mit seinem Honda für zwei, drei Tage verschwand, was glauben Sie wohl, wohin er dann ging? Es ist ein offenes Geheimnis, wo er war. Er war da, wo viele Männer hingehen, wenn sie Frauen wollen, die mit ihnen Sachen machen, die ihre Ehefrauen nicht mit ihnen machen. In Jaffa, in Tel Aviv, in Haifa – es finden sich genügend Häuser von schlechtem Ruf, wie meine selige Mutter sie nannte, in denen die Damen gegen entsprechende Bezahlung ihren Kunden jeden Wunsch erfüllen.« Der Rabbi schwenkte eine Hand in die ungefähre Richtung der Mittelmeerküste. »Samat hatte fleischliche Gelüste, das sah man ihm an den Augen an – wie er zum Beispiel seine Schwägerin Estelle anschaute, wenn sie zu Besuch war. Aber Samat hatte nicht nur fleischliche Gelüste. Er kochte noch so manches andere Süppchen.«
    In der Kochnische begann der Kessel zu pfeifen. Der Rabbi sprang hin und drehte das Gas ab. Gleich darauf kam er mit einem Tablett wieder, auf dem der Kessel und vier Tassen standen, und stellte es neben die Gedenkkerze auf den Tisch. Dann gab er in jede Tasse einen Teebeutel und goss kochendes Wasser in die erste. Als Martin dankend abwinkte, nahm er selbst die Tasse, ließ sich auf einen Klappstuhl nieder und wippte ungeduldig mit einem Fuß. Martin schob einen Stuhl an den Tisch und nahm gegenüber dem Rabbi Platz.
    »Wieso sollte jemand wie Samat, der Häuser von schlechtem Ruf aufsuchen musste, um seine Begierden zu befriedigen, eine orthodoxe Frau heiraten, die er nie zuvor gesehen hatte?«
    »Um das zu beantworten, müsste ich mich in Samat hineinversetzen können, und das kann ich nicht«, erwiderte der Rabbi und pustete geräuschvoll auf seinen Tee, bevor er die Tasse an die Lippen führte, um die Temperatur zu testen. Da der Tee noch zu heiß war, stellte er die Tasse wieder auf den Tisch. »Er war ein seltsamer Vogel, dieser Samat. Ich bin Ya’aras Rabbi. Im jüdischen Glauben legen wir bei unseren geistlichen Führern nicht die Beichte ab, wie die Katholiken das tun. Aber wir vertrauen uns ihnen an. Ich habe Ya’ara geglaubt, als sie mir erzählte, Samat habe sie in der Hochzeitsnacht nicht angerührt und auch nicht danach. Er hat nie im gemeinsamen Ehebett geschlafen. Es könnte also gut sein, dass sie noch Jungfrau ist. Als Samat mit ihr unter einem Dach lebte, war sie fest davon überzeugt, dass mit ihr irgendwas nicht stimmte. Ich habe versucht, ihr klarzumachen, dass höchstens mit ihm was nicht stimmte. Das habe ich auch ihm versucht, deutlich zu machen.«
    »Mit Erfolg?«
    Der Rabbi schüttelte traurig den Kopf. »Ich bin auf taube Ohren gestoßen.«
    »Was wollte er eigentlich hier?«
    »Er hat sich versteckt.«
    »Wovor? Vor wem?«
    Der Rabbi probierte seinen Tee erneut. Diesmal trank er einen kleinen Schluck. »Ich kann ja nun keine Gedanken lesen, oder? Wie hätte ich denn wissen sollen, wovor und vor wem? Schauen Sie, in eine jüdische Siedlung zu ziehen, mitten zwischen all die Araber, das ist ein bisschen so, als würde man der französischen Fremdenlegion beitreten: Sobald du unterschrieben hast, will keiner mehr deinen Lebenslauf sehen, wir sind einfach

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