Die kalte Legende
froh, dass du bei uns bist. Ich weiß aber, dass Samat den Leiter unseres Sicherheitsdienstes um eine Schusswaffe gebeten hat. Um seine Frau beschützen zu können, wie er sagte, für den Fall, dass die Hamas-Terroristen angreifen sollten.«
»Hat er die Waffe bekommen?«
Der Rabbi nickte. »Alle, die in einer Siedlung leben und sehen können, worauf sie schießen, können eine Waffe bekommen.« Dann fiel Ben Zion noch etwas ein. »Samat verfügte offenbar über unerschöpfliche Geldquellen. Er hat immer alles bar bezahlt – ein schickes Haus auf der Seite von Qiryat Arba, wo man den Sonnenuntergang beobachten kann, ein fabrikneues japanisches Auto mit Klimaanlage. Er hat seine Frau nie in die Synagoge begleitet, nicht einmal an hohen Feiertagen, aber es ist niemandem entgangen, dass sie stets einen Umschlag voller Geld in den Spendenkasten gesteckt hat.«
Just in diesem Augenblick trafen Ya’ara und Stella ein, was Martin endlich Gelegenheit gab, Samats Frau genauer zu betrachten. Sie war klein und übergewichtig, hatte das pausbäckige Gesicht eines Teenagers und einen matronenhaften Körper mit einem so üppigen Busen, dass die Knöpfe ihrer Bluse gefährlich spannten. Martin fürchtete, dass einer von ihnen jeden Augenblick abplatzen könnte. In den Lücken zwischen den Knöpfen erspähte er den rosa Stoff eines robusten BHs. Sie trug einen knöchellangen Rock, wie er bei Lubawitscher Frauen beliebt war, und einen runden Filzhut mit flacher Krempe, den sie nervös auf dem Kopf drehte, als suche sie die Vorderseite. Die kleinen Hautstellen, die Martin von ihrem Körper sehen konnte, waren kreideweiß, weil sie wohl nie Sonne abbekamen. Auf ihren Wangen waren Tränenspuren. Stella, deren Augen trocken waren, hatte den gleichen Anflug eines Lächelns auf den Lippen wie an dem Tag, als sie bei Martin im Billardsaal aufgetaucht war.
Der Rabbi sprang auf, als die Frauen plötzlich in der Tür standen. Ya’ara küsste die mesusa, bevor sie eintrat. Der Rabbi nahm ihre Hand in beide Hände, beugte den Oberkörper vor, sodass sein Kopf auf einer Höhe mit ihrem war, und redete wie ein Wasserfall auf Hebräisch auf sie ein. Martin vermutete, dass der Rabbi ihr sein Beileid aussprach, denn Ya’ara brach wieder in Schluchzen aus, Tränen strömten ihr über die Wangen und tropften auf den eng zugeknöpften Kragen ihrer Bluse. Ben Zion führte Ya’ara zu der Gedenkkerze und fing an, auf Hebräisch zu beten, wobei er auf den Sohlen seiner Turnschuhe vor und zurück wippte. Ya’ara wischte sich die Tränen mit einem Ärmel ab und fiel in das Gebet mit ein.
»Wollen Sie nicht auch für Ihren Vater beten?«, flüsterte er Stella zu.
»Ich bete nur für die Lebenden«, widersetzte sie heftig.
Nach dem Gebet verabschiedete sich der Rabbi mit der Begründung, er müsse sich um den Schabbat-Gang zur Höhle von Machpela kümmern, und Martin hatte zum ersten Mal Gelegenheit, mit Stellas Schwester zu sprechen. »Das mit Ihrem Vater tut mir Leid«, sagte er.
Sie senkte schüchtern die Lider und erwiderte: »Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass er stirbt, schon gar nicht an einem Herzinfarkt. Er besaß das Herz eines Löwen. Nach allem, was er durchgemacht hatte –« Sie zuckte schwach mit den Schultern.
»Ihr Schwester hat mich engagiert, Samat zu finden, damit Sie eine religiöse Scheidung erhalten können.«
Ya’ara wandte sich an Stella. »Was soll mir eine Scheidung denn nützen?«
»Das ist eine Frage des Stolzes«, stellte Stella fest. »Du kannst ihn nicht einfach ungeschoren davonkommen lassen.«
Martin lenkte das Gespräch wieder auf seinen Auftrag. »Haben Sie irgendwelche Sachen von ihm – ein Buch, das er mal gelesen hat, ein Telefon, das er benutzt hat, eine Flasche, aus der er sich einen Drink eingeschenkt hat, vielleicht sogar eine Zahnbürste? Irgendwas?«
Ya’ara schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch Briefpapier von ihm, mit einer Londoner Adresse im Briefkopf, aber es ist verschwunden, und an die Adresse erinnere ich mich nicht. Samat hat seine persönlichen Sachen in einen Schrankkoffer gepackt und ihn von zwei Jungs gegen Bezahlung zum Taxi bringen lassen. Er hat sogar unsere Hochzeitsfotos mitgenommen. Das einzige Foto, das wir noch von ihm haben, hat Stella nach der Hochzeit gemacht und unserem Vater geschickt.« Bei der Erwähnung ihres Vaters kullerten ihr wieder Tränen über die Wangen. »Wie konnte Samat mir das nur antun, frage ich Sie?«
»Stella hat mir erzählt, dass er oft
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