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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Identitäten verblassen, wenn wir älter werden, andere werden seltsamerweise schärfer und wir bewegen uns überwiegend darin. Aber das ist eine andere Geschichte.«
    »Nehmen wir mal an, es sei keine andere Geschichte … Ist Benny Sapir Ihre letzte Legende oder die, die Sie von Ihren Eltern haben?«
    Statt zu antworten sog Benny die Luft ein, die kühler wurde, als sie höher in die Berge kamen. Martin hätte sich ohrfeigen können, weil er das gefragt hatte. Er kannte die Grundregel für Vernehmungen: Mit jeder gestellten Frage verrätst du, was du alles nicht weißt. Wenn du nicht aufpasst, weiß der andere am Ende mehr über dich als du über ihn.
    Benny wechselte feinfühlig das Thema. »Macht Ihnen Ihr Bein noch zu schaffen?«
    »Ich habe mich an die Schmerzen gewöhnt.«
    Bennys Preiskämpfer-Lippen verzogen sich, sodass es aussah, als hätten sie einen Kampf zu viel mitgemacht. »Ja, Schmerzen sind wie Ohrensausen – man lernt, damit zu leben.«
    Als Benny in den zweiten Gang schaltete und auf eine schmale, steil ansteigende Straße bog, versanken sie in behagliches Schweigen, wie es zwischen zwei alten Kämpfern möglich ist, die einander nichts beweisen müssen. Im Autoradio lief ein Klassiksender. Plötzlich wurde das Programm unterbrochen, und Benny stellte das Radio lauter, weil eine Sondermeldung durchgegeben wurde. Anschließend setzte die Musik wieder ein, und er drehte sie erneut leise.
    »Schon wieder ein pigu’a « , teilte er Martin mit. »Das ist ein Terroranschlag. Die Hisbollah im Libanon hat im Sicherheitskorridor eine Armeepatrouille beschossen. Zwei unsrer Jungs wurden getötet, zwei verletzt.« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Die Hisbollah macht einen Fehler: Sie glaubt, wir hängen nur in Nachtclubs von Tel Aviv herum oder scheffeln Millionen in unserem israelischen Silicon Valley. Dass wir vor lauter Wohlstand die Kampfeslust verloren hätten, dass wir schlaff und fett geworden seien und nicht mehr bereit, für unser Land zu sterben. Den Zahn werden wir ihnen ziehen müssen …«
    Martin war verdattert über den Ausbruch. Da er nicht wusste, wie er reagieren sollte, sagte er nur: »Mm-hm.«
    Kurz darauf kamen sie in eine Wohnsiedlung mit teuer aussehenden zweistöckigen Häusern mit Vorgärten. »Wir sind hier einen Kilometer in der West Bank«, sagte Benny, als er den Skoda vor einem Haus mit überdachter Terrasse parkte. Martin folgte ihm durch das Metalltor hinter das Haus, wo Benny auf die tief hängenden Wolken deutete, die in der Ferne in safrangelbes Licht getaucht waren. »Was die Wolken so leuchten lässt«, sagte er, »ist Jerusalem, hinter dem Horizont«, sagte er. »Schön, nicht?«
    »Nein«, entfuhr es Martin, noch ehe er wusste, was er sagen wollte. Als Benny ihm einen raschen Blick zuwarf, fügte Martin hinzu: »Es ist mir nicht geheuer.«
    Benny fragte: »Was ist Ihnen nicht geheuer – Städte hinter dem Horizont? In Licht getauchte Wolken? Dass ich auf der palästinensischen Seite der Grenze von siebenundsechzig wohne?«
    Martin sagte: »Alles zusammen.«
    Benny zuckte die Achseln. »Ich habe das Haus 1986 gebaut, als Har Addar gegründet wurde«, sagte er. »Keiner von uns, die wir uns hier angesiedelt haben, hat sich vorstellen können, dass wir dieses Land je an die Palästinenser zurückgeben würden.«
    »Es muss Ihnen doch peinlich sein, auf der falschen Seite der grünen Linie zu wohnen.«
    Benny tippte einen Code in ein kleines Zahlenfeld an der Wand ein, um die Alarmanlage auszuschalten. »Falls wir irgendwann der Bildung eines palästinensischen Staates zustimmen«, sagte er, »müssen wir die Grenze so anpassen, dass israelische Wohnsiedlungen wie diese hier berücksichtigt werden.« Er entriegelte die Tür und ging voraus ins Haus. Die Lampen gingen an, sobald er über die Schwelle trat. »Moderner Schnickschnack«, erklärte er mit einem leisen Lachen. »Die Alarmanlage, das automatische Licht, das sind Vergünstigungen, in deren Genuss alle leitenden Mossad-Mitarbeiter kommen.«
    Benny stellte eine Flasche Whiskey und zwei dicke Wassergläser auf einen niedrigen Tisch, dazu eine Plastikschüssel mit Eiswürfeln und eine weitere mit Brezeln. Sie rückten sich Sessel zurecht, machten es sich bequem und gossen sich einen Drink ein. Martin nahm eine Beedie aus einer Blechdose. Benny gab ihm Feuer.
    »Auf Sie und die Ihren«, sagte Martin, blies den Rauch aus und stieß mit dem Israeli an.
    »Auf die Legenden«, sagte Benny. »Auf den Tag, an dem sie

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