Die kalte Legende
im Krankenhaus in Haifa, hatte der Mossad-Mann bei ihm am Bett gestanden. »Seit unserer letzten Begegnung ist sehr viel Wasser den Jordan runtergeflossen, Dante«, sagte Benny, als Martin neben ihm eingestiegen war. »Nicht eher Blut?«, erwiderte Martin, und sie lachten beide über den düsteren Scherz. Vor ihnen an der Kreuzung filzten zwei israelische Soldaten äthiopischer Herkunft einen arabischen Jungen, der ein Tablett mit kleinen Mokkatassen trug. »Sie laufen also jetzt unter dem Namen Martin Odum«, sagte Benny, lenkte den Wagen in den fließenden Verkehr und verließ Jerusalem in Richtung Tel Aviv. Der ehemalige Spionagechef warf dem Amerikaner einen raschen Blick zu. »Tut mir Leid, Dante, aber ich war verpflichtet, mich mit dem Shabak in Verbindung zu setzen.«
»Ich an Ihrer Stelle hätte das Gleiche getan.«
Benny war die Sache sichtlich unangenehm. »Reine Vorsichtsmaßnahme«, murmelte er, als wollte er sich erneut entschuldigen. »Die Leute, die heute am Ruder sind, das ist ein anderer Menschenschlag – wenn du denen quer kommst, kriegst du deinen Pensionsscheck später.«
»Verstehe«, sagte Martin.
»Also passen Sie schön auf, was Sie mir erzählen«, warnte Benny. »Ich soll nachher einen Kontaktbericht über Sie schreiben. Die wissen nicht genau, was Sie eigentlich hier machen.«
»Da geht’s denen genau wie mir«, gab Martin zu. »Wohin fahren wir, Benny?«
»Nach Har Addar. Da wohne ich. Ich koch uns was. Sie können auch bei mir übernachten, wenn Sie noch keine Bleibe haben. Hat Martin Odum eine Legende?«
»Er arbeitet als Privatdetektiv in Brooklyn, im Stadtteil Crown Heights.«
Benny wiegte anerkennend den Kopf hin und her. »Wieso nicht? Detektiv ist als Tarnung nicht schlechter als andere und besser als die meisten. Ich hatte damals diverse Legenden – meine Lieblingslegende hatte ich zu der Zeit, als ich Agenten in der damaligen Sowjetunion betreut habe. Damals war ich ein entlassener Priester, der in Istanbul in Sünde lebte. Der Sündenteil hat richtig Spaß gemacht. Und um überzeugend zu wirken, musste ich die Evangelien praktisch auswendig lernen. Johannes zu lesen war ein echter Schock. Wenn man nach den Wurzeln des christlichen Antisemitismus sucht, sollte man beim Johannesevangelium anfangen, das übrigens gar nicht von einem Jünger namens Johannes geschrieben wurde. Der Verfasser hat einfach seinen Namen geklaut. Wenn ich es mir recht überlege, könnte man fast sagen, dass wir da ein Beispiel für eine frühe christliche Legende haben.«
Benny hatte die Straße nach Tel Aviv bereits verlassen und fuhr durch die Berge westlich von Jerusalem in Richtung Har Addar, als Martin ihn fragte, ob seine Agenten in der ehemaligen UdSSR Juden gewesen waren.
Nach einem kurzen Seitenblick auf seinen Begleiter sagte Benny: »Einige ja, die meisten nicht.«
»Was hat sie bewogen, für Israel zu arbeiten?«
»Nicht alle wussten, dass sie für Israel arbeiteten. Wir haben unter anderer Flagge agiert, wenn wir dachten, das würde Erfolg haben. Was sie bewogen hat? Geld. Groll wegen persönlicher Kränkungen, reale oder eingebildete. Langeweile.«
»Keine ideologischen Gründe?«
»Es gab bestimmt auch einige, die aus ideologischen Gründen übergelaufen sind, aber mir persönlich ist keiner begegnet. Sie hatten alle eins gemeinsam: Sie wollten wie Menschen behandelt werden, nicht wie Rädchen in einem Getriebe, und sie waren bereit, für den Führungsoffizier, der das verstand, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Das Erstaunlichste an der Sowjetunion war, dass niemand, wirklich niemand an den Kommunismus glaubte. Wenn du also erst mal einen Russen rekrutiert hattest, gab er schon deshalb einen Topspion ab, weil er in einer Gesellschaft groß geworden war, wo sich jeder, von den Mitgliedern des Politbüros bis zu den Reiseführern von Intourist, verstellte, um zu überleben. Wenn ein Russe bereit war, für dich zu spionieren, dann hatte er im Grunde bereits gelernt, zwei Leben zu führen.«
»Eher doch drei Leben, oder? Das erste als systemkonformer Bürger. Das zweite als jemand, der das System verachtet, sich aber irgendwie damit arrangiert. Das dritte als jemand, der das System verrät und für Sie spioniert.«
»Stimmt, drei Leben.« Benny wurde nachdenklich. »Wenn man es recht überlegt, ist das vielleicht was ganz Normales. Im Grunde genommen leben alle Männer und einige Frauen mit verschiedenen Legenden, die an den Schnittstellen miteinander verschwimmen. Manche dieser
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