Die kalte Legende
Minh.«
»Minh hatte einen qualvollen Tod, Martin. Die Polizei hat die Sache als Unfall eingestuft.«
Martin lachte auf. »Klar, wenn Honig explodiert, ist das ein Unfall.«
»Was soll das heißen?«
»Nichts. Hast du herausgefunden, was sie anhatte, als die Bienen sie angegriffen haben?«
»In der Daily News hieß es, sie trug einen weißen Overall mit aufgerollten Ärmeln und Hosenbeinen. Ein Schutzhelm mit Moskitonetz lag neben ihr.« Ein Polizeiwagen raste mit Blaulicht und Sirene an Martin vorbei und übertönte das Gespräch. Als es wieder still wurde, hörte Martin Stella sagen: »Ach so, jetzt versteh ich.«
»Was verstehst du?«
»Die aufgerollten Ärmel und Hosenbeine – das war dein Overall, nicht? Glaubst du … könnte es sein, dass jemand … ach du Schande.« Stella senkte die Stimme. »Martin, ich habe Angst.«
»Ich habe auch Angst. Ich glaube, ich habe immer Angst.«
»Hat deine Reise was gebracht?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Kommst du zurück?«
»Noch nicht.«
»Soll ich mich in den nächsten Flieger setzen? Zwei Köpfe sind besser als einer. Zwei Herzen auch.« Er konnte fast hören, wie sie verlegen nach Luft schnappte. »Ohne Verpflichtungen, Martin. Das versteht sich von selbst.«
»Wieso müssen Dinge, die sich von selbst verstehen, eigentlich noch ausgesprochen werden?«
»Damit es nicht zu Verwirrungen kommt. He, willst du einen guten russischen Witz hören?«
»Spar ihn fürs nächste Mal auf, wenn wir uns wiedersehen.«
»Ich verlass mich drauf.«
»Worauf?«
Sie sagte es ganz leise. »Dass wir uns wiedersehen.«
Wieder hörte Martin einen Polizeiwagen mit heulender Sirene die Golders Green Avenue herunterkommen. Er sagte rasch: »Bis bald.«
»Ja. Bis bald. Pass auf dich auf.«
»Mm-hm.«
Der Polizeiwagen war fast auf Martins Höhe, und Stella musste schreien, damit er sie hören konnte. »Da, du hast es schon wieder gesagt.«
Am Ende der Golders Green Avenue ging Martin in ein Pub und setzte sich an einen Tisch im hinteren Teil des Lokals. Die Kellnerin, eine dürres, junges Ding mit Piercings in Ohr, Nase, Augenbraue und Nabel, der unter ihrem bauchfreien T-Shirt zu sehen war, kam mit einer kleinen Schiefertafel, auf der die Speisekarte stand. Martin bestellte das Tagesgericht und ein kleines Lager. Während er sein Bier trank und auf das Essen wartete, wurde es vorn im Pub unruhig. Leute verließen die Theke und ihre Tische und versammelten sich vor dem Fernseher, der oben auf einem Regal an der Wand stand. Der Bildschirm war von Martins Platz aus nicht zu sehen, und auch der Ton nicht zu hören. Als die Kellnerin ihm die Fleischpastete mit Pommes Frites brachte, fragte er, was denn los sei.
»In einem Lagerhaus hier ganz in der Nähe sind ein paar Leute umgebracht worden. Das Aufregendste, was in Golders Green seit ewigen Zeiten passiert ist, wissen Sie. Deshalb die vielen Polizeisirenen.«
Martin ging nach vorn und hörte noch das Ende der Nachrichtenmeldung. »Grausiger Schauplatz der Morde«, sagte der Moderator, »war das Lagerhaus einer humanitären Organisation namens ›Soft Shoulder‹, die Prothesen für Landminenopfer in Kriegsgebiete liefert.« Seine Kollegin unterbrach ihn: »Wie wir soeben erfahren, wurden die drei Toten identifiziert. Es handelt sich um Taletbek Rabbani, achtundachtzig Jahre alt, afghanischer Flüchtling und Leiter der humanitären Organisation – er war mit den Händen über dem Kopf an ein Rohr unter der Decke gefesselt worden und verblutete an einer Stichwunde am Hals –, weiterhin um seinen ägyptischen Mitarbeiter Rachid, der mit einem einzigen Kopfschuss getötet wurde, und um eine Sekretärin namens Doris Rainfield, die ebenfalls erschossen wurde. Eine vierte Frau wird vermisst, und die Polizei fürchtet, dass die Killer sie möglicherweise bei ihrer Flucht mitgenommen haben. Sie wurde als Mrs. Frost identifiziert und ist angeblich die Ehefrau des bekannten Snookerspielers Nigel Frost.«
Als Martin zu seinem Tisch zurückkehrte, stellte er fest, dass ihm der Appetit auf Fleischpastete vergangen war. Er hob einen Finger, um die Kellnerin auf sich aufmerksam zu machen, und rief: »Einen doppelten Whiskey. Pur.«
Während er unter dem Eindruck des Schocks an seinem Whiskey nippte, kam ihm plötzlich die Erleuchtung, was ihn an den drei Männern in dem Lagerhaus stutzig gemacht hatte. Natürlich! Wieso war er nicht früher darauf gekommen? Sie waren alle frisch rasiert gewesen – die obere Hälfte ihrer
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