Die kalte Legende
wollte mit einem raschen Vorstoß durch Virginia Richmond, die Hauptstadt der Konföderierten, einnehmen und dadurch den Krieg beenden. Der Plan war ausgezeichnet. Präsident Lincoln gab grünes Licht, und Burnside zog mit seinen Truppen in einem Gewaltmarsch den Potomac hinunter bis auf die Höhe von Fredericksburg, am anderen Ufer des Rappahannock. Wenn er die Rebellen überrumpeln und die Stadt einnehmen könnte, wäre der Weg nach Richmond frei und der Krieg vorbei, ehe er richtig angefangen hatte. Burnside hatte für die Überquerung des Rappahannock beim Kriegsministerium dringend Pontonbrücken beantragt, doch als er Fredericksburg erreichte, waren die Brücken nicht geliefert worden. Die Unionsarmee wartete zehn Tage auf diese gottverdammten Brücken, wodurch General Robert Lee reichlich Zeit hatte, mit seiner Armee auf den Anhöhen oberhalb der Stadt in Stellung zu gehen. Als die Brücken schließlich eintrafen und Burnside den Fluss überquerte, hatte Bobby Lee mit fünfundsiebzigtausend Konföderierten den Weg nach Richmond blockiert. Es war winterliches Wetter, der Herbstschlamm auf den zerfurchten Straßen war gefroren. Die Unionssoldaten in ihren prächtigen Uniformen griffen den ganzen Tag über ansteigendes offenes Gelände an, Welle um Welle. Die Rebellen in ihren groben, mit Pflanzen gefärbten Stoffen hatten sich hinter einer niedrigen Steinmauer verschanzt, entlang einem Hügelkamm namens Marye’s Heights, und schlugen jeden Angriff zurück. Die Scharfschützen mit ihren Whitworths schossen die Unionsoffiziere so mühelos ab, dass viele von ihnen sich die Abzeichen abrissen. Einige Gruppen von Unionisten suchten hinter Backsteinhäusern auf der Ebene Deckung, doch die Yankee-Kavallerie prügelte sie mit der flachen Seite ihrer Säbel zurück in den Kampf. Burnside, der im Chatham Mansion auf der anderen Seite des Flusses seinen Befehlsstand eingerichtet hatte, beobachtete vom Dach des Gebäudes aus den Verlauf der Schlacht. Von der Kuppe des Hügelkamms war Chatham Mansion gut zu sehen, und Bobby Lee zeigte einmal darauf, als er Stonewall Jackson erzählte, er habe dreißig Jahre zuvor der Lady, die er schließlich geheiratet hatte, in dem Haus da den Hof gemacht. Entlang dem Kamm schmetterte eine Musikkapelle der Konföderierten Walzer für die Südstaatenfrauen und -männer, die extra aus Richmond gekommen waren, um sich die Schlacht anzusehen. General Old Pete Longstreet hatte sich das Schultertuch einer Frau umgelegt und beobachtete vom Befehlsposten der Konföderierten aus durch ein Standfernrohr das Kampfgetümmel. Es dauerte eine Weile, bis er überzeugt war, dass der Unionsangriff auf das Hohlweggelände kein Täuschungsmanöver war – er konnte einfach nicht glauben, dass Burnside seine Leute mit einem Frontalangriff, der keine Aussicht auf Erfolg hatte, in den sicheren Tod schickte. Irgendwann schaffte es eine irische Brigade bis auf fünfzehn Schritte an den Hohlweg heran, und selbst die Südstaatler, die von der Anhöhe aus zusahen, bejubelten ihren Mut. Aber die Männer des 24. Georgia-Regiments, die hinter der Steinmauer hockten und aus allen Rohren feuerten und immer wieder nachluden, bis ihnen vom Abbeißen der Papierpatronen die Zähne wehtaten, schlugen auch diesen Angriff zurück. Burnside startete vierzehn Angriffe auf den Hügelkamm, bis es dunkel wurde. Als die Unionsarmee am nächsten Tag schließlich über den Fluss zurückwich und Bilanz zog, stellte sich heraus, dass sie in der Schlacht von Fredericksburg neuntausend Männer verloren hatte.«
Martin saß jetzt nach vorn gebeugt auf seinem Stuhl, die Lider fest zugedrückt, eine Hand flach an der Stirn, um die Migräne zurückzuhalten, die sich hinter seinen Augen aufbaute. »Als Lincoln Dittmann in Washington für sein Buch recherchierte, entdeckte er in den Archiven der Army Burnsides Antrag auf die Pontonbrücken. Das Wort ›dringend‹ war geschwärzt worden, wahrscheinlich von einem Sympathisanten der Konföderierten im Kriegsministerium. Um Ihre Frage zu beantworten, was so besonders an der Schlacht von Fredericksburg war – Dittmann kam zu dem Schluss, wenn die Pontonbrücken rechtzeitig geliefert worden wären, wäre der Krieg dort 1862 zu Ende gewesen und hätte sich nicht noch bis 1865 hingezogen.«
Martin verstummte erschöpft. Eine Weile waren das Surren des Kassettenrekorders und das Kratzen von Dr. Trefflers Stift auf Papier die einzigen Geräusche in dem kleinen stickigen Raum. Als sie schließlich
Weitere Kostenlose Bücher