Die kalte Legende
Gesicht wie ein Fremdkörper wirkte. »Sie fallen aus dem Rahmen, Martin, keine Frage. Keinem meiner Kollegen ist so jemand wie Sie schon untergekommen. Es wird ganz schön Aufsehen erregen, wenn mein Aufsatz erscheint –«
»Mit geänderten Namen zum Schutz der Unschuldigen.«
Zu Martins Überraschung ließ sie so etwas wie Humor durchscheinen. »Mit geänderten Namen auch zum Schutz der Schuldigen.«
»So allmählich verstehen Sie, wie der Hase läuft, Bernice. Die Leute, die Sie dafür bezahlen, dass sie meinen Kopf therapieren, werden begeistert sein.«
»Wir Psychiater therapieren nicht den Kopf unserer Patienten. Wir therapieren ihre Probleme.«
»Ich bin erleichtert, das zu hören.«
»Erzählen Sie mir mehr über Lincoln Dittmann.«
»Was denn?«
»Was Ihnen so einfällt.« Als er weiter zögerte, sagte sie: »Hören Sie, Martin, Sie können mir alles erzählen, was Sie dem Chef der CIA erzählen können.«
»Alles?«
»Deshalb sind Sie in diesem Raum. Das hier ist eine Privatklinik. Die Ärzte hier wurden überprüft und sind autorisiert, Staatsgeheimnisse zu erfahren. Wir behandeln die Agenten, die aus den unterschiedlichsten Gründen Hilfe brauchen, bevor sie ins Zivilleben zurückkehren.«
»Wenn Sie die CIA-Chefin wären und ich Ihnen so wie jetzt gegenübersäße, so nah, dass sich unsere Knie fast berühren –«
Bernice nickte aufmunternd. »Fahren Sie fort.«
»Würde ich Ihnen sagen, dass ein Kamel ein von einem Ausschuss entworfenes Pferd ist. Dann würde ich sagen, dass die CIA vom selben Ausschuss entworfen wurde. Und dann würde ich Sie daran erinnern, dass es in jeder uns bekannten Kultur schon immer weniger Pferde gab als Menschen, die das Denken den Pferden überlassen sollten, weil die größere Köpfe haben.«
»Sie sind wütend.« Sie machte sich eine Notiz. »Es ist völlig in Ordnung, wenn Sie wütend sind. Lassen Sie Ihre Wut ruhig raus.«
Martin zuckte die Achseln. »Ich dachte, ich würde bloß gesunden Zynismus zum Ausdruck bringen.«
»Lincoln Dittmann«, sagte sie, um das Thema wieder aufzugreifen.
»Er ist in Jonestown aufgewachsen, einer Kleinstadt in Pennsylvania. Seine Mutter war nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen eingewandert. Sein Vater hatte eine Kette von Haushaltswarenläden, die Hauptfiliale war in Fredericksburg, auf der Virginia-Seite des Potomac. Er verbrachte mehrere Monate im Jahr in Fredericksburg und nahm seinen Sohn in den Schulferien mit. Lincoln hat immer gern das Schlachtfeld nach Souvenirs abgesucht – damals konnte man noch allerhand finden, verrostete Bajonette, Kanonenkugeln oder die Läufe von Vorderladern, vor allem nach einem heftigen Regenguss. Als er ins Teenageralter kam und die anderen Kinder in seinem Alter am liebsten Batman-Comics lasen, konnte Lincoln die Schlacht von Fredericksburg in allen Einzelheiten runterbeten. Auf Lincolns Drängen hin fing sein Vater an, den Farmern aus der Gegend Fundstücke aus dem Bürgerkrieg abzukaufen – wenn er von seinen Geschäftsreisen nach Hause kam, brachte er auf dem Rücksitz seines Studebaker Gewehre und Bajonette und Pulverhörner und Orden der Union mit.«
»Keine Konföderierten-Orden?«
»Die Konföderierten haben ihren Soldaten keine Orden verliehen. Als Lincoln aufs College ging, hatte er bereits eine stattliche Sammlung zusammen. Er besaß sogar eine Rarität, eine englische Whitworth, das bevorzugte Scharfschützengewehr der Konföderierten. Die Papierpatronen waren sündhaft teuer, aber ein erfahrener Schütze traf damit alles, was er sehen konnte.«
»Wo hat er studiert?«
»Pennsylvania. Sein Hauptfach war amerikanische Geschichte. Seine Abschlussarbeit hat er über die Schlacht von Fredericksburg geschrieben. Als er Dozent am Junior College wurde, hat er die Abschlussarbeit zu einem Buch erweitert.«
»Das Buch, das er auf eigene Kosten rausgebracht hat, als er keinen Verlag fand?«
»Dass sich kein Verlag dafür interessiert hat, war für ihn eine bittere Enttäuschung.«
»Was war denn so besonders an der Schlacht von Fredericksburg?«
Martin hob eine schweißfeuchte Hand und massierte sich die Stirn. Die unwillkürliche Geste entging Dr. Treffler nicht. »Anfang Dezember 1862«, begann er, während er mit leerem Blick zum Fenster hinaus auf den Horizont schaute, hinter dem Bilder von der großen Schlacht vor seinem geistigen Auge aufblitzten, »übernahm ein neuer Unionsgeneral das Kommando über die Potomac-Armee. Sein Name war Burnside. Ambrose Burnside. Er
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