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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Gesichter gebräunt, als ob sie sich überwiegend im Freien aufhielten, aber die untere Gesichtshälfte blassgrau. Einer der Männer hatte kleine Schnitte von einem Rasiermesser am Kinn, was darauf schließen ließ, dass sie sich erst kurz zuvor die Bärte abrasiert hatten, um nicht so leicht als Muslime erkannt zu werden.
    Martin schloss die Augen und stellte sich vor, wie Taletbek Rabbani an dem Rohr hing, während sein Mörder ihm das Messer in den Hals stach. Auf der Suche nach Samat waren die Tschetschenen – bartlos in London – dem alten einbeinigen Tadschiken schneller zum Verhängnis geworden, als er gedacht hatte.

1994: DAS EINZIGE FUTTER WAR KANONENFUTTER
    »Als wir letzte Woche Schluss gemacht haben, Martin«, sagte Dr. Treffler, »sprachen Sie gerade darüber –«, ihre Augen huschten über die Notizen in ihrem Ringbuch, »dass Sie manche Dinge gut können, auch wenn Sie sie zum ersten Mal machen.«
    Die CIA-Psychiaterin trug einen engen Rock, der kurz über dem Knie aufhörte. Als sie die Beine übereinander schlug, wurde ihr Oberschenkel sichtbar und Martin wandte den Kopf ab. Er wusste, dass sie mit allem, was sie tat, einen Zweck verfolgte. Durch die Sache mit den Beinen wollte sie ihm Informationen über seinen Sexualtrieb entlocken, vorausgesetzt, er hatte einen Sexualtrieb. Er fragte sich, was wohl ein anderer Psychiater von Dr. Trefflers Art halten würde, sich Notizen zu machen, denn sie füllte jeden Quadratmillimeter ihres Ringbuchs mit einer winzigen Krakelschrift, deren Buchstaben sich in irgendeinen nicht existenten emotionalen Sturm hineinlehnten. Solschenizyn hatte Iwan Denissowitsch so geschrieben, aber er hatte auch gerade sieben Jahre in einem von Stalins Gulags hinter sich. Was hatte sie für eine Entschuldigung? Was hatte es zu bedeuten, wenn man keine Ränder mochte?
    »Ja, ich erinnere mich«, sagte er schließlich. Durch die Fensterscheiben und den grünen Maschendraht (sollte der verhindern, dass Patienten aus dem Fenster sprangen?) konnte er ein bisschen von der Landschaft Marylands sehen, das letzte braune Laub an den Bäumen.
    Er empfand eine instinktive Bewunderung für ihre Hartnäckigkeit.
    »Das hat mich immer fasziniert«, fuhr er fort, weil sie es von ihm erwartete, weil sie da saß mit ihren übereinander geschlagenen Beinen, ihrem entblößten Oberschenkel und ihrem gezückten Mont-Blanc-Füller. »Ich fand es komisch, dass man manche Sachen gut hinkriegt, auch wenn man sie zum ersten Mal macht.«
    »Zum Beispiel?«, fragte sie mit tonloser Stimme nach, die nicht das geringste Interesse an der Antwort verriet.
    »Eine Apfelsine schälen. Ein Stück Zündschnur für Plastiksprengstoff abschneiden, das lang genug ist, um sich in Sicherheit zu bringen. Eine unauffällige Materialübergabe an einen Agenten auf einem überfüllten Souk in Beirut.«
    »Welche Legende hatten Sie in Beirut?«
    »Dante Pippen.«
    »War das nicht der –«, Bernice (seit einigen Sitzungen nannten sie sich beim Vornamen) blätterte eine weitere Seite in ihrem Ringbuch um, »der Geschichte an einem Junior College unterrichtet hat? Der das Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg geschrieben und auf eigene Kosten veröffentlicht hat, weil kein Verlag interessiert war?«
    »Nein, das war Lincoln Dittmann. Pippen war der irische Attentäter aus Castletownbere, der als Sprengstoffausbilder auf der ›Farm‹, dem Ausbildungslager der CIA, angefangen hatte. Später hat er dann als angeblicher Sprengstoffexperte der IRA eine sizilianische Mafia-Familie infiltriert, die Taliban-Mullahs in Peschawar und eine Hisbollah-Einheit im Bekaa-Tal im Libanon. Bei dieser letzten Mission ist seine Tarnung aufgeflogen.«
    Dr. Treffler nickte und machte sich auf dem Blatt eine weitere Notiz. »Bei Ihren vielen Identitäten komme ich kaum noch mit.«
    »Ich auch nicht. Deshalb bin ich ja hier.«
    Sie blickte von dem Ringbuch auf. »Sind Sie sicher, dass Sie all Ihre operativen Biographien identifiziert haben?«
    »Alle, an die ich mich erinnere.«
    »Könnte es sein, dass Sie welche verdrängen?«
    »Ich weiß nicht. Ihrer Theorie nach besteht ja die Möglichkeit, dass ich mindestens eine verdränge.«
    »In der Fachliteratur zu dem Thema herrscht weitestgehend Übereinstimmung, dass –«
    »Ich dachte, Sie wären der Ansicht, dass ich in keine Kategorie passe, die in der Fachliteratur behandelt wird.«
    Dr. Treffler ließ ein äußerst seltenes Lächeln aufblitzen, das in ihrem ansonsten ausdruckslosen

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