Die kalte Legende
er eine Zweigstelle – noch so ein Lieblingsprojekt von Samat –, irgendwelche geheimen Nebengeschäfte. Ich habe eine Geschäftsführerin des Ladens kennen gelernt, eine Tschechin, als sie hier war, um mit Samat zu sprechen. Sie hat mir ihre Karte gegeben, für den Fall, dass ich mal nach Prag komme.«
»Was für geheime Nebengeschäfte?«
»Ich weiß nicht genau. Ich habe was aufgeschnappt, als die Frau mit Samat gesprochen hat. Bei dem Projekt ging es um den Tausch der Gebeine eines litauischen Heiligen gegen jüdische Thorarollen. Fragen Sie mich nicht, was die Gebeine eines Heiligen mit Thorarollen zu tun haben. Ich weiß es nicht. Samat hat viele Gesichter. Der Samat, den ich kenne, hat Prothesen zum Selbstkostenpreis exportiert. Von den anderen Samats habe ich nur ab und an einen flüchtigen Blick erhascht. Einer von ihnen hat unter der Prager Adresse, die ich Ihnen gegeben habe, Intrigen ausgeheckt.«
Martin blickte kurz auf den Briefumschlag, dann streckte er dem alten Mann die Hand entgegen. Rabbanis knochige Finger, mit wächserner weicher Haut überzogen, ergriffen seine Hand, als wollte er ihn nicht gehen lassen. Worte, die kaum als menschliche Sprache erkennbar waren, sprudelten aus dem Kehlkopf des alten Mannes.
»Ich sehe die Dinge aus der Perspektive eines Menschen, der an die Tür des Todes klopft. Die Apokalypse ist gleich um die Ecke, mein Sohn. Sie sehen mich an, als ob ich in eine Irrenanstalt gehöre, Mr. Odum. Ich bin in einer Irrenanstalt. Und Sie auch, wenn man es recht bedenkt. Die westliche Kultur – oder was davon übrig ist – ist eine einzige große Irrenanstalt. Die wenigen Glücklichen, die das verstehen, werden als verrückt eingestuft und in die Klapsmühle gesteckt.«
Rabbani rang um Atem. »Finden Sie Samat, bevor die ihn erwischen«, keuchte er. »Er ist einer von den wenigen Glücklichen.«
»Ich tue, was ich kann«, versprach Martin.
Als er zurück durch die Gänge des Lagerhauses ging, kam Martin an drei muskulösen Männern vorbei, die Kartons auf einen Hubkarren luden. Rabbanis Bodyguard Rachid stand etwas abseits und beobachtete sie mit starrer Miene. Die drei Männer, alle glatt rasiert, trugen orangefarbene Overalls mit dem Logo einer Spedition, das über dem Reißverschluss der Brusttasche aufgenäht war. Als Martin vorbeikam, hoben sie den Blick und musterten ihn. Keiner von ihnen lächelte. Irgendetwas an den Männern beunruhigte Martin – aber er konnte nicht sagen, was.
Mrs. Rainfield winkte ihm aus ihrem Büro zu, als er zur Vordertür ging, die sich wieder mit einem Klicken öffnete. Draußen auf der Straße winkte Martin noch einmal fröhlich in die Überwachungskamera über seinem Kopf. Während er sich die Straße hoch auf den Weg nach Golders Green und zu seiner Pension machte, überlegte er noch immer, was ihm an den drei Speditionsleuten komisch vorgekommen war.
Die drei Männer in den orangefarbenen Overalls stapelten die Kartons so hoch auf den Hubkarren, dass der oberste ins Wanken geriet. Rachid sprang vor, um ihn festzuhalten: »Passt doch auf –«, setzte er an. Als er sich umdrehte, starrte er in die Mündung eines Schalldämpfers, der auf den Lauf einer italienischen Beretta geschraubt war. Sie zielte direkt auf seine Stirn.
Rachid nickte unmerklich, ein Muslim, der den Mörder autorisiert, sein Leben zu beenden. Der Mann im Overall nickte ebenfalls, wie zur Anerkennung, dass Rachid Herr seines Schicksals war, und drückte ab. Die Waffe gab ein gedämpftes Zischen von sich und schlug leicht zurück. Im selben Moment erschien ein säuberliches Loch auf Rachids Stirn. Der zweite Mann fing ihn unter den Armen auf und senkte den Körper auf den Zementboden. Der dritte Mann ging quer durch das Lagerhaus zu Mrs. Rainfields Büro und klopfte an die Glastür. Sie winkte ihn herein. »Was kann ich für Sie tun, mein Guter?«, fragte sie.
Er zog eine Pistole mit Schalldämpfer aus der Reißverschlusstasche seines Overalls und schoss ihr ins Herz. »Sterben«, erwiderte er, als sie auf den Schreibtisch sackte, einen verwunderten Blick in den leblos starren Augen.
Hinten im Lagerhaus klopften die beiden anderen Männer an die Tür von Taletbek Rabbanis Büro und traten ein. Einer von ihnen hielt ihm den Lieferschein hin. »Mr. Rabbani, es fehlen zwei Kartons mit Fußprothesen«, sagte der eine, während sie auf das Schreibpult zugingen.
»Das kann nicht sein«, erwiderte Taletbek Rabbani, griff nach seinen Stöcken und schob sich vom Hocker
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