Die Kalte Zeit
haben hier in der Gegend nie solche Vorfälle gehabt. Ich hätte auch nie gedacht, dass man mitten im Dezember eine Kultur anzünden kann! Wenn ich das nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es nicht glauben. Wenn nun Hochsommer wäre . . . Andererseits war der Herbst extrem trocken, es hat ja wochenlang nicht geregnet. Und wie die Tannen gebrannt haben! Die sind richtig explodiert.« Er versank in Schweigen, dann schüttelte er den Kopf. »Konrad hätte die Nordmänner nicht pflanzen dürfen.«
»Wie meinen Sie das? Warum nicht?«, fragte Zagrosek.
Graupner fuhr sich mit der Hand über die Augen, er sah auf einmal traurig aus. »Konrad hatte die Samen aus Georgien mitgebracht. Aus einer Gegend im Nordkaukasus, Borshomi. Und die Art und Weise, wie er sie sich besorgt hat, war . . . na ja, sagen wir, sie war nicht . . . korrekt.“
Zagrosek dachte daran, was Wolf Hendricks auf dem Schützenfest gehört hatte. Da war von einer Schuld die Rede gewesen.
»Was heißt das? Hat er sie gestohlen?«, fragte er.
»Nein, das nicht«, meinte Graupner. »Konrad und ich, wir haben in Borshomi unsere eigenen Pflücker gehabt. Wir haben sie bezahlt und durften die Samen ausführen. Unser bester Mann hieß Lewan Tsiklauri. Wir haben bei der Familie im Haus wohnen können. Er starb bei einem Unfall. Stürzte aus einer Tanne ab, aus vierzig Meter Höhe. Vor unseren Augen.« Graupners Gesichtszüge versteinerten. »Konrad hat Tsiklauri zum Pflücken gezwungen, obwohl es stürmisch war. Kein anderer Pflücker war an diesem Tag in die Bäume gegangen. Aber Konrad hat Druck gemacht. Die Samen waren kurz davor, reif zu werden. Wenn man den richtigen Zeitpunkt verpasst, zerbröseln die Zapfen und sind nicht mehr zu verwenden.«
Blessing sah Graupner ungläubig an. »Sie wollen sagen, Konrad Verhoeven hat aus Profitgier den Tod dieses Pflückers in Kauf genommen?«
Graupner zögerte einen Moment, und Zagrosek hatte das Gefühl, er wolle Blessing widersprechen. Doch dann nickte er. »Ja, das hat er. Und ich für meinen Teil kann auf die Bekanntschaft mit so einem Menschen verzichten.« Er richtete sich auf, atmete hörbar ein. »Aber was soll’s. Das sind olle Kamellen. Er hat die Samen wahrhaftig hier eingepflanzt und dreißig Jahre wachsen lassen. Fünfundzwanzig Meter hohe Tannen. Und das in dieser platten Gegend hier.«
»Fällt man die nicht normalerweise mit sieben oder acht Jahren und verkauft sie als Weihnachtsbäume?«, fragte Zagrosek.
»So ist es. Aber diese Tannen durfte niemand antasten. Gesa und Wolf Hendricks konnten nicht mal Schmuckreisig von den unteren Zweigen ernten. Selbst das Unkraut war Konrad heilig. Die Leute haben schon drüber geredet. Aber Konrad hat sich noch nie um die Meinung anderer geschert.« Graupner wandte den Blick ab. »Und nun ist er mit seinen Tannen verbrannt.«
10. November – knapp vier Wochen zuvor . . .
Der Ruf einer Krähe teilte die Nacht in ein Vorher und ein Nachher. Gesa hob den Kopf vom Kissen. Sie hörte ein Rauschen wie von den Schwingen großer Vögel. Der Herbst neigte sich dem Ende zu und Krähen zogen rastlos umher. Morgens sah Gesa ihre glatten Gefieder als schwarz glänzende Punkte auf den Feldern. Abends umwölkten sie die Äste der Buche vor dem Haus.
Felix lag auf der Seite und umarmte seine zusammengerollte Bettdecke. Sein T-Shirt war hoch gerutscht und entblößte seinen Rücken. Wie wenig er seinem Vater ähnelte. Felix war klein und zart, er hatte das dunkelblonde, glatte Haar von Gesa und von seiner Großmutter Anna. Gesa strich leicht über seinen Kopf. Sie rückte näher an ihn heran und deckte ihr Federbett über sie beide.
Raaah-raaah-raaah! Ein ganzer Schwarm Krähen schrie durcheinander, nah vor dem Fenster. Gesa schlug die Decke zurück und spürte die eisige Luft an den nackten Beinen. Sie stand auf und sah hinaus. Die Krähen flatterten im Hof, balgten um die besten Plätze, Schnäbel hackten in etwas hinein, das Gesa nicht erkennen konnte. Das Tageslicht kroch gerade erst über das Scheunendach. Noch mehr Krähen schwärmten herbei, angelockt vom Lärm. Was war das für ein dunkler Fleck in ihrer Mitte? Ein Stück Fleisch?
Gesa stieg die Treppe hinunter, lief durch den Flur und zog an der Hoftür ihre Gummistiefel an. Wolf hörte sicher nichts von dem Radau, das Ehebett stand auf der anderen Seite des Hauses. Gesas Eltern schliefen im Erdgeschoss, ebenfalls zur Straßenseite.
Gesa griff nach dem erstbesten Kleidungsstück an der Garderobe,
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