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Die Kalte Zeit

Die Kalte Zeit

Titel: Die Kalte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Kliem
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es war Annas Mantel. Sie zog ihn über und betrat den Hof. Sie näherte sich den kreischenden Krähen, doch erst als sie in die Hände klatschte, stoben sie auseinander und gaben die Beute frei. Gesa schreckte zurück. Es war Hasko. Die Schnauze des Schäferhundes stand offen, Schaum quoll heraus. Die Lefzen zerfetzt, ein Rest Zunge, leere, blutige Augenhöhlen. Sie ging in die Hocke und legte die Hand auf das braune, zerzauste Fell. Haskos Körper war schon kalt.
    Gesa blickte hoch zum Fenster des Kinderzimmers. Dort war alles dunkel und still. Felix durfte nichts merken. Er durfte Hasko nicht sehen. Nicht so.
    Hasko ist schon alt gewesen, das weißt du doch. Sein Herz war müde und hat aufgehört zu schlagen. Kann mein Herz auch aufhören zu schlagen, Mama? Ja, mein Schatz, das passiert jedem Lebewesen, aber bei dir wird es noch lange, lange, lange nicht so weit sein.
    Gesa zog den Mantel aus und warf ihn über den Hund. Die Krähen hatten sich in der Nähe zusammengerottet und beobachteten sie. Gesa kratzte eine Hand voll Steinchen zusammen und ging auf die Vögel zu. Es war schon so hell, dass sie die gierigen Knopfaugen in den kleinen Köpfen erkennen konnte.
    »Verschwindet! Los, haut ab!« Sie schleuderte ihnen die Steinchen entgegen, doch fast alle Geschosse gingen ins Leere. Die Vögel schwangen sich auf wie ein einziger Körper, erhoben sich über das Haus und verschwanden.
    Gesa lehnte sich an die Hofmauer. Auf der Landstraße fuhr ein Motorrad vorbei. Danach Stille. Als gäbe es kein Leben mehr um sie herum.
    Etwas war hier geschehen in der Nacht. Der Schaum vor Haskos Maul. Er war vergiftet worden. Damit er nicht anschlug?
    Gesa trat vor das Tor, kalter Wind schlug ihr entgegen. Ein Tannenzweig lag auf dem Weg. Gesa hob ihn auf. Ihre Finger strichen über die weichen Nadeln. Nein, kein Zweig. Es war eine Tannenspitze. Gesa erkannte eine Schnittfläche.
    Sie lief um das Wohnhaus herum und stand vor der Kultur mit Nordmanntannen. Heute wollten Wolf und Konrad anfangen, die Bäume zu fällen. Noch sechs Wochen bis Weihnachten, die ersten Kunden, Dekorateure von Warenhäusern und Fußgängerzonen, warteten auf Lieferung. Das Geschäft begann in jedem Jahr früher, der Countdown bis zum Fest lief.
    Siebentausend Zöglinge, alles Zweimeterbäume. Fast jede Tanne von ihr selbst mit der Machete in Form geschnitten, gesnippt, gedüngt. Die Arbeit von zehn Jahren: ihre Prachtstücke. Die schönste Tanne hatte sie schon im September geschlagen, um sie auf der Internationalen Weihnachtsbaumbörse vorzuführen. Und sie hatte den ersten Preis im Wettbewerb um den schönsten Weihnachtsbaum Deutschlands gewonnen.
    Schutzlos in ihrem Nachthemd schlang Gesa die Arme um den Oberkörper. Sie blickte auf die vordersten Bäume. Es war kein böser Traum, aus dem sie erwachen würde! Die Tannen waren verstümmelt, ihrer Spitze beraubt worden. Die Reihen dahinter: dasselbe Trauerspiel. Gesa hob den Blick. Sie sah auf ein endloses Heer von Weihnachtsbäumen, deren Spitzen brutal abgeschlagen worden waren. Und langsam sickerte ein Wort in ihr Bewusstsein: bankrott.
     
    Gesa lehnte am Küchenfenster und beobachtete das langsame Zurückweichen der Schatten im Hof, die den Kampf gegen die Morgensonne verloren. Den Frühstückstisch abräumen, die Spülmaschine anstellen, ausfegen. Je mehr die Liste im Kopf anwuchs, desto weniger Kraft spürte sie in sich.
    Wolf lief vor dem Hofladen hin und her wie ein eingesperrtes Tier. Er telefonierte mit Großkunden. »Blaufichten für elf Euro . . . Nein, Nordmann in der Größe habe ich nicht. Die restlichen haben erst knapp ein Meter fünfzig . . . Ja, was glauben Sie, wie leid es mir selber tut . . . Nein, wir wissen noch gar nichts . . . Melden Sie sich einfach . . . Danke.«
    Konrad setzte seinen Wagen rückwärts aus der Scheune. »Ich fahr zum Lagerplatz«, rief er Wolf aus dem Wagenfenster zu. Wolf gab mit der Hand ein Okayzeichen. Er hatte schon wieder einen Kunden in der Leitung.
    Gesa setzte sich an den Küchentisch und legte den Kopf auf die Arme. Sie fühlte sich zu matt, um zu weinen. Sie hörte, wie ein Auto in den Hof einbog, stand wieder auf und blickte hinunter. Ein Polizeiwagen. Ein Mann in Uniform stieg aus, groß, von schmaler Statur. Er griff an seine Mütze, sah sich suchend um und drehte für einen Moment sein Gesicht in ihre Richtung.
    Da draußen stand Lars! Gesa wich vom Fenster zurück. Sie rieb sich die Augen, griff zur Küchenrolle, schnäuzte sich die Nase. Wieso

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