Die Kalte Zeit
übernehmen. Doch das hatte Zeit, der alte Graupner war noch fit.
Gesa konnte sich nicht vorstellen, dass die Nachbarn sich nachts auf das Grundstück der Verhoevens schlichen und Baumspitzen abschlugen. Aber andererseits . . . wer wusste schon genau, wie sehr Konrad Herbert Graupner provoziert hatte? Konrad konnte Menschen so demütigen, dass sie begannen ihn zu hassen. Das hatte Gesa einige Male erlebt. Mal traf es die polnischen Erntehelfer, mal einen der festen Mitarbeiter. Und heute früh war Lars seine Zielscheibe gewesen. Doch Lars war souverän geblieben. Ob auch er ihren Vater hasste?
Das Telefon klingelte, und sie hob den schnurlosen Apparat ans Ohr. »Hendricks?«
»Hallo, Lars noch mal. Ich wollte nur kurz hören, wie es dir geht. Noch schwindelig?«
»Nein, nein, alles in Ordnung, ich kann arbeiten.«
»Ah, prima.«
Sie wartete. Wollte er nichts mehr sagen? Es raschelte im Hintergrund, so als würde er Papiere durchblättern.
»Wo bist du denn? Zurück auf der Wache?«
»Ähm, ja.« Er räusperte sich. »Gesa . . . Es war schön, dich wieder zu sehen.«
»Ja!« Das war viel zu laut gewesen. Gesa hielt verspätet die Hand vor den Hörer. »Warum sind wir uns nie begegnet? In Büttgen oder in Kaarst?«
»Ich hab’ seit der Ausbildung in Duisburg gearbeitet. Ich war nur selten hier. Und du? Hast du studiert wie geplant?«
»Ja, Botanik in Köln.«
Was konnte sie weiter sagen? Ihr Kopf war wie leer gefegt. Sie versuchte sich Lars’ schmales Gesicht vorzustellen, doch es verschwamm vor ihrem inneren Auge. Sie klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und nahm den Besteckkasten aus der Spülmaschine. Sie sammelte alle Messer und legte sie in die Schublade, dann waren die Gabeln an der Reihe und zuletzt die Teelöffel. Sie achtete darauf, dass die Löffelchen ineinander lagen, jeder Rücken musste sich in die Vertiefung eines anderen schmiegen, keines durfte quer liegen, die Ordnung stören.
Lars lachte. »Was machst du da? Ich höre nur noch Klappern.«
»Entschuldige. Ich habe zu tun.« Das hatte abweisend geklungen. Würde er nun auflegen?
»Okay, ich wollte dir nur anbieten . . . Also, wenn du Hilfe brauchst, kannst du mich jederzeit anrufen.«
Gesa lächelte bitter. Wenn du siebentausend Baumspitzen wieder auf ihre Tannen zurück zaubern könntest . . . Sie sprach den Gedanken nicht aus. Sie spürte, dass er es ehrlich meinte. »Wir können die Tannen in diesem Jahr nicht verkaufen, aber ein Teil lässt sich sicher retten«, hörte sie sich sagen. »Ich muss mir Baum für Baum ansehen, ob sich ein geeigneter Seitentrieb mit einer Spirale hochbinden lässt. In ein bis zwei Jahren bildet sich eine neue Spitze aus. Leider werden die Tannen nur B-Qualität sein und sind dann für den normalen Kunden schon zu groß.
Wer kann sich schon eine zweieinhalb Meter hohe Tanne ins Wohnzimmer stellen.« Was redete sie da! Warum sollte Lars sich dafür interessieren. Sie hörte ihn einatmen, kurz und scharf.
»Und das war also dein Mann. Wolf?«
»Ja.« Gesa zögerte. »Und du? Du bist auch verheiratet?«
Lars räusperte sich. »Meine Frau heißt Karoline. Wir haben zwei Töchter. Neun und Zwölf sind sie.«
»Ah.«
Die Küchentür ging auf und ihre Mutter kam herein. »Warum kommst du nicht runter? Bist du schwerhörig? Sieh mal aus dem Fenster, was da unten los ist. Wie soll ich das allein schaffen?«
»Ich bin am Telefon, Mama.«
Lars hatte mitgehört. »Okay, ich muss hier auch weitermachen. Dann mach’s gut, Gesa.«
»Ja, danke für den Anruf«, sagte Gesa und drückte die rote Taste.
Den ganzen Nachmittag arbeitete Gesa mit ihrer Mutter im Hofladen. Es herrschte Andrang, doch Gesa hatte das Gefühl, dass die Leute aus reiner Neugierde kamen. Zuerst besichtigten sie die zerstörten Tannen, dann kamen sie auf den Hof, kauften sechs Eier oder ein Bund Tannengrün, und hielten sich, so lange es ging, auf dem Anwesen auf. Endlich war mal was los in Büttgen. Tausende Nordmanntannen zerstört, das hatte sich schnell herum gesprochen. Auch die Presse war schon da gewesen. Morgen würde es in den Zeitungen stehen. Alle waren fassungslos, wie so etwas geschehen konnte, wollten Details wissen, aufmunternde Worte loswerden. Gesa kam kaum zum Nachdenken, und dennoch ging ihr das Telefonat mit Lars im Kopf herum. Warum hatte er noch einmal angerufen? Sie war ja nicht krank, ihr war nur für einen Moment schwindelig gewesen.
». . . wissen ja, wer nachts hier vorbeigefahren ist.« Die
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