Die Kalte Zeit
selbst und half nur mit etwas Dünger dem Wachstum nach. Das Ergebnis waren viele nicht perfekte Bäume, für die man keinen Spitzenverkaufspreis erzielen konnte. Oder aber man hegte und pflegte sie, schnitt in Form, snippte, regulierte mit der Top-Stopp-Zange den obersten Trieb, den Terminaltrieb, damit er nicht zu stark nach oben schoss, und wurde hinterher mit ‚Erste Wahl-Bäumen’ belohnt, hatte aber auch eine Menge Zeit und Energie investiert.
Gesa betrachtete ihren Vater, seine Augen lagen im Schatten der Hutkrempe. Er stand dort kerzengerade, und doch hatte sie in letzter Zeit das Gefühl, als schrumpfe er. Seine Wangen wirkten eingefallen, auf jeden Fall hatte er abgenommen. Gesa spürte plötzlich eine große Sehnsucht, ihn zu umarmen, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen.
Aber sie hatte Konrad nie umarmt, und auch er hatte sie nicht in den Arm genommen, nicht mal, als sie ein kleines Mädchen war.
»Ich habe die Säcke mit den Zapfen aus der Halle geräumt«, sagte Konrad. »Ich muss die Gebläsespritze rein fahren. Die steht auf dem Hof im Weg rum. Außerdem soll es regnen.« Er blickte in den Himmel. »Endlich mal.«
Gesa sah ihn entsetzt an. »Aber wo soll ich hin mit den Zapfen? In die Klenge können sie erst im Januar. Ich kann sie doch nicht draußen lagern.«
»Ich sag ja, das war eine Schnapsidee.« Konrad wandte sich zum Gehen.
Gesa glitt die Schere aus der Hand. Der schwere Griff fiel auf ihren Fußknöchel; es tat höllisch weh, doch Gesa kümmerte sich nicht um den Schmerz. Sie trat zu Konrad und fasste ihn am Arm. »Komm mit!« Sie erschrak selbst über ihre laute Stimme.
Konrad sah sie mit einem merkwürdigen Blick an, hart und unnachgiebig und doch . . . Sie sah auf einmal, dass er litt. Etwas quälte ihn! Und sie sah, dass er Angst hatte.
»Komm mit!«, bat sie noch einmal. Und er folgte ihr. Gesa rannte fast zur Halle, am liebsten hätte sie Konrad am Ärmel mitgezogen. Sie öffnete einen Sack mit Zapfen, nahm zwei Hände voll heraus, streckte sie ihm entgegen. »Hier. Sieh sie dir an. Papa, sie sind perfekt. Komm, wir schneiden welche auf.« Sie nahm ihr Taschenmesser aus der Jacke und öffnete einen Zapfen. Zwei Reihen Samen, weiß schimmernde, ebenmäßige Perlen. Sie hielt die Hand hoch, damit er gut sehen konnte.
Gesa sah ihren Vater an. Warum sagte er denn nichts? »Warum hast du die Bäume wachsen lassen? Vielleicht hast du ja damals daran gedacht, sie irgendwann zu beernten?«
Konrads Gesicht war wie versteinert.
»Diese Tannen sind . . .« Er brach ab, warf ihr einen Blick zu, der voller Wut und Verzweiflung war. »Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich damals dachte. Aber eines weiß ich: Ich will mit den Nordmännern kein Geld verdienen. Ich will nicht, dass du die Samen verkaufst, und ich will nicht, dass du sie pflanzt. Hast du mich verstanden?«
Gesa sah ihn erschreckt an. Sie nickte stumm.
»Morgen früh sind die Säcke weg. Ich will sie nicht mehr sehen.« Konrad wandte sich um und ging.
Gesa sah ihm nach, bis er verschwunden war.
Sie blickte in die Dämmerung. Dunkelgrau nun die Felder, leer, abgeerntet, trostlos. Gerade noch zu erkennen ein Schwarm Krähen, so tief über der umgepflügten Erde, dass Gesa meinte, sie wirbelten kleine Klumpen hoch. Wie eine schwarze Wand standen die alten Nordmänner, als duldeten sie kein Licht zwischen ihren Nadeln. Sie lief hinüber zu den Tannen und lehnte sich an einen der mächtigen Stämme.
Als sie klein war, hatte Konrad manchmal vom Nordkaukasus erzählt, von den Wäldern, in denen ihm Füchse und Hirsche begegnet waren. Sogar Bären gab es dort. Aber er hatte nie einen gesehen. Wie mochten diese Bäume, diese Berggeschöpfe, sich hier fühlen, am platten Niederrhein, so fern der Heimat? Ob es ihnen egal war, wo sie wuchsen? Ob über ihnen Adler ihre Kreise zogen oder Flugzeuge, die den Düsseldorfer Flughafen ansteuerten? Vielleicht trugen sie in ihren Samen ein uraltes Wissen: Hier ist nicht Muttererde, hier gehören wir nicht hin.
Gesa verstand ihren Vater nicht. Was bedeuteten diese Tannen für ihn? Sie legte die Hand auf den Stamm. Er fühlte sich kalt an, hart und unverwundbar. Und doch konnte eine Motorsäge ihn in Sekunden fällen.
Auf einmal krampfte sich ihr Magen zusammen. Wie würde Vater reagieren, wenn der Artikel im ‚Nadel Journal’ erschien? Er hatte ihr gerade verboten, mit den Samen zu handeln. Vor der Halle lagen schutzlos ihre Säcke. Es würde Regen geben. Was sollte sie jetzt nur
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