Die Kalte Zeit
Atem roch. »Weiß nicht. Da muss ich erst mit dem Alten reden.«
»Das wäre . . . nett von dir.«
Rocco angelte mit spitzen Fingern eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche. »Ruf mich die Tage mal an, auf der Handynummer.«
Gesa biss sich auf die Lippe. »Es tut mir leid, aber . . . das wäre zu spät. Ich müsste die Säcke heute noch bringen. Am besten jetzt gleich.«
»Na, du bist gut! Ich hab Feierabend. Bin mit ein paar Kumpels im ‚Bebop’ verabredet. Und außerdem: Wieso soll ich dir helfen, wo doch dein Alter uns bei der Polizei angeschwärzt hat?«
Gesa blickte an ihm vorbei. Das war ihm ja früh eingefallen.
Rocco packte einen Kaugummi aus, steckte ihn in den Mund und begann rhythmisch mit dem Kiefer zu mahlen. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf. »Also, das ist ja wirklich . . . Kommt hier an und erwartet von mir . . .« Wieder lachte er meckernd.
Gesa drückte den Rücken durch. Das reichte. Sie hatte es versucht, aber noch weiter konnte sie sich nicht erniedrigen. Sie hatte nichts erreicht. Stattdessen hatte sie Rocco auch noch Futter geliefert, im Dorf über sie zu tratschen. »Vergiss es einfach. Bis dann, Rocco.«
Sie wandte sich zum Gehen, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen.
Da hörte sie Roccos Stimme. »Nun renn doch nicht gleich weg. Ich sag doch, ich muss es mit dem Alten klären.«
Gesa blieb stehen und sah, wie er sein Handy ans Ohr nahm. Sie hatte sich Rocco Graupner ausgeliefert, und ihr war nicht wohl bei der Sache. Was er sagte, konnte sie nicht verstehen, aber das hämische Lachen zwischen seinen Worten traf sie wie Splitter, die sich in die Haut bohrten.
Eine Stunde später traf Gesa zuhause ein. Aus dem Wohnzimmer ihrer Eltern dröhnte wieder Dvoraks Symphonie ‚Aus der neuen Welt’. Gesa wusste nicht, woher Konrad die Musik ursprünglich hatte, aber sie erinnerte sich, dass es sie schon seit ihrer Kindheit als Schallplatte im Haus gab. Es war die einzige, die Konrad sich von Wolf als CD hatte besorgen lassen, nachdem Wolf einen CD-Spieler für die Schwiegereltern angeschafft hatte. Er hörte die Symphonie wieder und wieder. Sie hatten Konrad zum letzten Geburtstag einen Kopfhörer geschenkt, doch er weigerte sich, ihn zu benutzen. Gesa hatte das Gefühl, es machte ihm Spaß, die gesamte Familie zum Mithören zu zwingen.
Sie hängte ihre Jacke an die Garderobe und schnupperte. Von oben, aus ihrer Küche, roch es angebrannt. Sie lief die Treppe hinauf. Wolf und Felix saßen am Küchentisch und aßen. In der Pfanne auf dem Herd rauchte Fett, auf Felix’ Teller lag ein angebranntes Spiegelei.
»Mama, wo warst du?«, fragte er.
Gesa trat zu ihm, und er verbarg sein Gesicht in ihrem Schoß. Wolf würdigte Gesa keines Blickes. Sie streichelte Felix’ Haar. »Ich musste etwas erledigen. Etwas sehr Dringendes.« Sie schob ihren Sohn ein Stück von sich weg und ging zum Herd. »Seid ihr denn satt? Soll ich noch . . .?«
Wolf richtete sich auf. »Danke sehr, wir haben alles. Felix, iss dein Ei auf.«
»Aber es ist an den Rändern ganz schwarz.«
»Du isst das auf! Nimm dein Messer und leg das Ei auf die Brotscheibe.«
Felix nahm das Ei mit spitzen Fingern hoch, als wolle er es zusammen klappen, aber die glibberige Fläche entglitt ihm und platschte zurück auf den Teller. Ein paar Spritzer Fett landeten auf seinem Sweatshirt und der Tischdecke.
Wolf stand auf, sein Gesicht lief rot an. »Es reicht! Warum nimmst du die Finger? Hast du keine Manieren? Man muss sich für dich schämen!« Er beugte sich zu Felix, dem die Tränen in die Augen schossen. »Los, verschwinde! Geh ins Bett! Sofort. Ich will dich heute nicht mehr sehen!«
Felix stand auf und lief weinend aus dem Zimmer.
Gesa näherte sich der Tür, doch Wolfs wütender Blick hielt sie zurück. »Etwas sehr Dringendes?«, fragte er. »Darf man als Ehemann erfahren, worum es geht? Was könnte dringender sein, als hier im Laden zu helfen? Wo die Leute Schlange stehen? Und Anna allein nicht mehr klar kommt, so dass ich ihr helfen muss, obwohl ich dringend auf dem Lagerplatz gebraucht werde? Was kann dringender sein, als seiner Familie Abendessen zu machen?«
Gesa riss Stücke von der Küchenrolle und rieb das verbrannte Fett aus der Pfanne. Sie warf den zusammengeknüllten Krepp in den Mülleimer. »Konrad brauchte Platz in der Halle. Er wollte die Gebläsespritze rein fahren.«
Auf dem Weg nach Hause hatte sie nicht darüber nachgedacht, wie sie Wolf und Konrad beibringen sollte, dass sie
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