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Die Kalte Zeit

Die Kalte Zeit

Titel: Die Kalte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Kliem
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und Anna schliefen längst.
    Gesa ging ins Bad, ließ Wasser in die Wanne laufen und gab einen Spritzer Schaumbad in den Strahl. Sie hockte sich auf den Rand und sah zu, wie sich ein Berg aus Seifenbläschen auftürmte. Plötzlich erschrak sie. Sie hatte nicht mehr nach Oma und Opa Martini gesehen. Und sie hatte Juliane doch versprochen . . .
    Ein zaghaftes, inneres Stimmchen schwang sich zu ihrer Verteidigung auf: Sie war den ganzen Tag von einer Aufgabe zur nächsten gehetzt, die Stumpfbeschneidung, der Besuch von Christine Piske, dann die unvorhergesehene Aktion mit den Zapfen und ihre eigene Familie, die schon wütend auf sie gewartet hatte. Nein, schalt sie sich, es gibt keine Entschuldigung. Sie hatte sich stundenlang in der Kultur mit den Bäumen beschäftigt. Für Bäume hatte sie Zeit gehabt. Und für ihre heimlichen Gedanken an Lars.
    Sie hätte nach den Martinis sehen müssen.
    Die Angst drückte auf ihre Brust. Das Gericht tagte wieder. Solange Gesa sich zurück erinnern konnte, wachte es über sie, sah alles, was sie tat und würde sie für Fehltritte bestrafen. Sie konnte diese Instanz nicht mit Gott gleichsetzen. Gott war gütig und verzieh Sünden, wenn man sie bereute. Das hatte sie als Kind in der Kirche gelernt. Dennoch hatte sie sich nach der Beichte nie erleichtert gefühlt und das Ritual als junge Frau ganz aufgegeben.
    Nun war sie erwachsen und allein mit ihren Sünden, allein mit dem himmlischen Gericht, zu dem sie nicht beten konnte wie ein Kind zum Lieben Gott. Sie spürte, dass bereits eine Strafe über sie verhängt war. Die Frage war, wie und wann die Bestrafung ausgeführt werden würde.
    Gesa hatte gelernt, ihre Richter gnädiger zu stimmen, in dem sie etwas für andere tat. Zumindest fühlte sie sich dann besser. Konnte sie jetzt noch nach den Martinis sehen? Nein, es war fast Mitternacht, sie schliefen längst. Wenn sie aufwachten, würden sie sich zu Tode erschrecken, wenn jemand auf dem Hof herumschlich. Aber ab sofort würde sie jeden Morgen nach dem Rechten sehen und ihnen ihre Hilfe anbieten.
    Sie zog sich aus, stellte den Wasserstrahl ab und stieg in die Wanne. Das Bad war so heiß, dass die Haut juckte und schmerzte, aber sie hielt es aus. Heute Nacht würde sie nicht mehr frieren. Gesa lehnte den Kopf an den Wannenrand. Sie war so müde. Nichts mehr denken, einfach nur entspannen. Die Spiegel des Badezimmerschrankes und die Fensterscheiben beschlugen. Irgendwo im Haus krachten Paukenschläge, Dvoraks Violinen schlugen Kapriolen und drängten durch die kalten Flure bis an ihre Ohren. Das konnte nicht sein! Die Musik war abgestellt, Konrad lag längst im Bett. Im Haus war es still. Es musste still sein. Doch in Gesas Kopf wirbelten Töne.
    Sie ließ ihren Körper tiefer gleiten, bis ihr Kopf unter Wasser war und nur noch Mund und Nase zum Atmen herausragten. Das Wasser rauschte und gluckerte um sie herum, aber das waren angenehme Geräusche, ähnlich wie die Stille, nach der sie sich sehnte. Sie wollte sich nicht mehr bewegen, damit das Wasser zur Ruhe kam. Da krachte ein neuer Schlag in ihren Kopf, hallte in ihrem Körper nach. Wieder einer. Es war ihr Herz! In hastigem Rhythmus knallten die Schläge wie Peitschenhiebe, so quälend, dass sie wieder auftauchte.
    Die Luft über dem Wasser erschien ihr nun kalt, das nasse Haar klebte an ihrer Stirn. Sie hörte Dvorak. Und wenn sie sich die Ohren zuhielt, vermischte sich das Peitschen und Gluckern und Rauschen aus ihrem Körperinneren mit der Musik. Gesa fühlte sich, als müsse etwas in ihr explodieren. Sie war kurz davor zu schreien.
    Sie floh aus der Wanne, trocknete sich halbherzig ab und zog ihren Bademantel über. Ihr Gesicht glühte. Sie schlich die Treppe hinunter in die Küche. Sie nahm eines der scharfen Obstmesser aus der Schublade und spähte ins Wohnzimmer. Hier war nichts als Dunkelheit und Kälte. Die Musikanlage war ausgeschaltet, natürlich. Oben drauf lag, was sie suchte. Sie nahm die CD aus der Hülle und kratzte mit dem Messer quer über die silberne Scheibe. Das Dröhnen und Peitschen in ihr hörte auf. Endlich.
    Sie schob die CD zurück. Morgen war ein Tag ohne Dvoraks neunte Symphonie. Doch Gesa spürte, wie die über ihr schwebenden Richter die Strafe heraufsetzten.
    4. Dezember
    Wolf nahm ein weißes Oberhemd aus dem Schrank. Krawatte oder lieber nicht? Wirkte vielleicht zu steif. Er kombinierte schwarze Hose und graues Jackett. Doch, ein dezenter, dunkelroter Schlips passte gut. Er rasierte sich sehr

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