Die Kalte Zeit
finden, den Preis für die Flächen hoch zu handeln. Dem Bürgermeister erst mal grünes Licht geben. Und mit dem Investor selbst konnte man sicher noch was drehen. Da war Spielraum nach oben!
Wolf spürte eine neue Welle heißer Wut in sich aufsteigen. Was für eine Chance, die sich da bot! Geld, um den Betrieb zu sanieren, auf neue Füße zu stellen. Investition in den Spargelanbau. Zukunft! Und er saß hier, zum Nichtstun verurteilt. Wolf führte die Flasche zum Mund. Noch einen Schluck. Er setzte sich ein für den Betrieb, er opferte sich auf von früh bis spät, aber das interessierte niemanden. Noch einen Schluck. Und noch einen. Nun war es eh schon egal. Sein Leben war ein Scheißdreck. Kein Spaß, kein Luxus. Nur Frust.
Wie lange saß er schon hier? Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Jedenfalls war die Flasche nun leer.
Er versuchte aufzustehen, prallte aber gegen das Regal mit den Marmeladengläsern. Scheppernd gingen ein paar zu Boden. Die Wände drehten sich um Wolf, trotzdem versuchte er, Scherben und Marmelade mit den Fingern zusammenzukratzen. Ein Schmerz durchzuckte ihn. Ein Glassplitter steckte in seinem Handballen, Blut tropfte auf den Boden. Oder war das Himbeersaft? Wolf wankte zur Tür. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Einfach so tun, als sei alles normal. Ins Auto steigen, zum Lagerplatz fahren. Gerber wollte kommen. Fünfzig Blaufichten mit Ballen. Um Elf, hatte Konrad gesagt. Wie spät war es wohl? Wolf hob den Arm. Sein Handgelenk war nackt. Wo war nur seine Uhr geblieben? Er blickte in den Himmel. Nach dem Stand der Sonne war es noch früh. Es war alles zu schaffen. Ja, das war gut, dass sie die Blaufichten loswurden. Wären doch alle Fichten und Tannen schon weg. Alle Bäume. Er konnte keine Bäume mehr sehen.
Wolf stieg in den Wagen, startete den Motor und steuerte auf das Hoftor zu, doch die Umrisse der Öffnung verschwammen, die Mauern verdoppelten sich. Er bremste. Nein, so hatte es keinen Sinn. So kam er nicht durch das verdammte Tor. Draußen gingen zwei Männer vorbei. Hünges und Rohloff! Also war das Gespräch mit Konrad beendet. Sie unterhielten sich, bemerkten ihn in seinem Wagen nicht. Die beiden sahen nicht glücklich aus. Hünges schüttelte immer wieder den Kopf. Rohloff gestikulierte mit müden, resignierten Bewegungen.
Konrad hat sie weggeschickt, durchfuhr es Wolf. Er fühlte sich schlagartig nüchtern. Kein Geschäft, kein Geld. Es war schief gegangen. Es war wahrhaftig schief gegangen.
2. Teil
16. Dezember
Jemand hatte Gesa ein kleines Tier in den Arm gelegt. War es ein Hamster? Ein Vögelchen? Es fühlte sich ganz weich an. Und so zerbrechlich, dass sie die Knöchelchen unter dem Fell oder Federkleid spüren konnte. Das hilflose Wesen fror und hatte Hunger. Gesa wärmte es an ihrem Herzen und suchte nach Futter. Aber was sollte sie ihm geben? Sie wusste nicht einmal, um welche Art Tier es sich handelte. Die Verantwortung lastete auf ihr. Das Tierchen wurde immer schwächer. Es würde sterben, wenn Gesa sich nicht kümmerte. Sie irrte umher, verlor wertvolle Zeit. Und dann griffen ihre Hände ins Leere: Das Tier war verschwunden. Gesa hatte es verloren, sie hatte nicht gut genug aufgepasst! Panik ergriff sie, während sie den Weg zurück rannte, so schnell sie konnte. Sie suchte und suchte . . . nichts . . . das kleine Wesen war fort.
Gesa schrak hoch und setzte sich im Bett auf. Ihr Nachthemd klebte an ihrem Rücken, sie war nass geschwitzt. Sie sah auf den Wecker, es war zehn Minuten vor der eingestellten Zeit.
Sie hasste diesen Traum. Immer und immer wieder suchte er sie heim. Sie erwachte jedes Mal an der gleichen Stelle, hilflos, machtlos, voller Schuldgefühle.
Ihr Vater war tot. Der Gedanke legte sich wie ein Grauschleier über jeden Tag. Sie stand auf und ging ins Bad. Ob der Schmerz irgendwann nachlassen würde? Und das Gefühl der Schuld? An seinem letzten Abend war Konrad im Streit gegangen. ‚Et eß Kermes em Dörp!» Seine letzten Worte zu ihr, zynisch und wütend. Sie hörte das Ratschen des Messers auf Konrads CD. Am letzten Tag seines Lebens hatte er seine Lieblingsmusik nicht mehr hören können. Gesa wusste nicht mal, ob er die Zerstörung bemerkt hatte. Er hatte nicht mit ihr gesprochen.
Sie versuchte, sich auf die Aufgaben zu konzentrieren, die heute anstanden. Ein Einkauf bei der Metro, am Lagerplatz Bäume in Netze verpacken, Mittagessen kochen, nachmittags im Hofladen bedienen.
Felix tapste an ihr vorbei zur Toilette, die
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