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Die Kalte Zeit

Die Kalte Zeit

Titel: Die Kalte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Kliem
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Ein Ruck ging durch seinen Körper, als habe er eine Entscheidung getroffen. »Ich muss los . . . Wenn dir noch irgendetwas auffallen sollte, kannst du jederzeit . . . Hast du meine Karte?«
    Gesa schüttelte den Kopf. »Aber Wolf hat eine.«
    Lars reichte ihr ein bedrucktes Kärtchen. »Die Handynummer steht drauf. Wenn irgendwas ist . . . du weißt schon.«
    Er ging zur Tür. Gesa brachte ihn bis zum Wagen. Sie zitterte nun am ganzen Körper. Die Kälte. Nur die Kälte.
    Sie wusste plötzlich, sie würde ihn nicht wieder sehen. Er würde nun einsteigen und wegfahren. Und das war das Ende.
    »Ich muss rüber zu den Nachbarn, nachsehen ob alles in Ordnung ist«, sagte sie schnell. »Sie sind schon älter. Sie kommen mit dem Hof nicht mehr klar.«
    Lars sah sie aufmerksam an. In seinem Gesicht war nicht die kleinste Regung erkennbar. »Wenn du willst, komm ich kurz mit.«
    Gesa nickte. Schweigend standen sie voreinander.
    Gesa hörte den Motor eines Traktors, ganz in der Nähe, hinter dem Haus. War das Wolf? Aber dort lag nur die Tannenkultur mit den abgeschnittenen Spitzen. Ihr kam ein furchtbarer Verdacht.
    »Warte, ich bin sofort zurück.«
    Sie lief durch die Hofeinfahrt, um das Anwesen herum. Über den Feldweg näherte sie sich ihren Tannen. Der Nebel war immer noch dicht. In das gleichmäßige Dröhnen des Motors mischte sich immer wieder ein kurzes Surren: das Erntegeräusch. Doch da gab es nichts zu ernten, nur zu fällen. Wolf zerstörte ihre Tannen!
    Konrad war tot. Wolf musste niemanden mehr um Erlaubnis fragen. Er ging seinen Weg. Und Gesa konnte mitgehen, wenn sie wollte.
    Auf einmal hatte sie das Gefühl, in dem Nebel zu ersticken. Sie drehte sich um und lief zurück zu Lars.
     
    Wolf thronte knapp zwei Meter hoch auf seinem Portaltraktor. Ab und zu kontrollierte er mit einem kurzen Blick den Feldweg zum Hof. Nicht, dass Gesa es wagen würde, ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Aber trotzdem war er über die schlechten Sichtverhältnisse ganz froh.
    Das Fällen der Tannen ging gut voran, er fuhr mit acht Stundenkilometern. Seitlich surrte die messerscharfe, gezackte Stahlscheibe, durchschnitt die Stämme wie ein Stück Butter, und die Bäume kippten zur Seite weg.
    Tatsachen schaffen, das war notwendig. Wie er Gesa kannte, fing sie sonst noch an, jeden Baum einzeln zu betüddeln und Seitentriebe hochzubinden.
    Es tat gut, etwas zu zerstören. Seine Laune besserte sich schon. Trotzdem saß ihm der Ärger noch im Magen. Gesa geriet außer Kontrolle. Dieses Interview. Was war nur los mit ihr? Früher hätte sie sich nie, niemals, getraut, über seinen Kopf hinweg eigene Pläne zu schmieden.
    Wolf sah nur wenige Meter weit. Der Nebel hockte wie eingeklemmt zwischen dem benachbarten Waldstück und der Blaufichtenkultur auf der anderen Seite. Kein Windhauch bewegte die weißen Schwaden.
    Eine Silhouette tauchte neben der nächsten Tanne auf wie eine Geistererscheinung. Wolf kniff die Augen zusammen. War das der Umriss eines Menschen? Direkt vor seinem Traktor, zwischen den Tannen, stand ein Mann. Wolf riss den Steuerknüppel in den Leerlauf, bremste. Die Maschine stand still.
    Wolf sprang vom Führerstand. »Sind Sie wahnsinnig?«, rief er. »Ich hätte Sie fast erwischt!«
    Der Mann hatte kurzes schwarzes Haar, sah ausländisch aus. Er trug einen Anzug, darüber offen eine Steppjacke. Statt einer Antwort packte er Wolf am Kragen. Wolf musste feststellen, dass der Kerl mindestens so groß und kräftig war wie er selbst.
    »Was wollen Sie von mir?« Wolf griff nach dem Handgelenk des Mannes, doch dessen Finger umschlossen seine Jacke wie Eisenklammern.
    Plötzlich ließ der Mann los und stieß Wolf zurück. »Vergessen Sie Ihren Plan mit den Samen.«
    »Was?!«
    »Borshomi. Diese Herkunft gehört uns.«
    Der Fremde sprach mit einem osteuropäischen Akzent, vielleicht war er Pole? Nein, das klang anders. Ein Russe? Oder . . . Wolf begriff. Der Typ sprach von der Gegend im Kaukasus, in der Konrad früher Tannenzapfen gepflückt hatte. Borshomi. Der Fremde war also Georgier. Und er war der Meinung, dass die Borshomi-Zapfen ihm gehörten.
    Wolf musterte den Fremden. Das war eine interessante Wendung des Schicksals. Wenn Wolf ihm die Zapfen aushändigte, schuf sich Wolf ein Riesenproblem vom Hals. Gesa konnte ihre Pläne, die Baumschule auszubauen, vergessen. Und Wolf musste sich nicht mit ihr über die Flächen streiten, die er für den Spargelanbau nutzen wollte. Andererseits waren die geernteten Zapfen wertvoll.

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