Die Kalte Zeit
Juliane. Als sie Gesa sah, sprang sie auf. »Gesa!«
Gesa nahm sie in den Arm. »Ich wollte nach den beiden sehen«, stammelte Gesa. »Was ist denn passiert?«
Juliane antwortete mit erstickter Stimme. »Papa hat sich erschossen. Mit seinem Jagdgewehr. Und Mama hat eine Überdosis Schlaftabletten genommen.« Sie weinte an Gesas Schulter. Ihr Körper bebte.
Gesa drückte Juliane an sich. »Wird sie . . . Ist sie in Lebensgefahr?«
»Der Notarzt sagt, sie könne es überleben. Ich muss zu ihr ins Krankenhaus. Aber ich darf nicht fahren. Sie haben mir ein Beruhigungsmittel gegeben.«
»Ich fahre dich hin«, sagte Gesa. »Komm, wir gehen zu meinem Wagen.«
»Warte einen Sekunde.« Juliane sank auf einen Stuhl.
Gesa warf einen Blick aus dem Fenster. Lars stand nun im Hof, den Hut in die Stirn gezogen, sprach mit den Polizeibeamten und rauchte.
Noch ein Pkw bog in den Hof ein, ein Mann und eine Frau stiegen aus. Gesa erkannte die Kommissare, die den Tod ihres Vaters untersuchten, sie hatte ihre Namen vergessen. Der blonde, breitschultrige und die rothaarige, die einen halben Kopf größer war als er und gar nicht aussah wie eine Polizistin, eher so, wie sich Gesa die Chefin einer Modefirma vorgestellt hätte. Sie gingen auf Lars zu und fragten ihn etwas. Die zwei Uniformierten tippten mit den Fingern an ihre Mützen und setzten sich in den Streifenwagen.
Gesa sah, wie sich Lars’ Lippen bewegten. Die Lippen, die sie vor wenigen Minuten noch geküsst hatten. Er sah so fremd aus. Ein großer, eleganter Mann, ein Bein lässig vorgeschoben, eine Hand in der Manteltasche vergraben.
Mit der anderen führte er die Zigarette, zwischen Zeigefinger und Daumen geklemmt, zum Mund, nahm einen Zug und ließ sie dem blonden Kommissar vor die Füße fallen. Der betrachtete den Stummel, dann zertrat er ihn.
Sechs Stunden später schaltete Zagrosek die Deckenlampe im Büro ein. Es war den ganzen Tag nicht richtig hell geworden. Eine milchige Mittagsonne war im Nebel vorbei getrieben und früh von der Dämmerung verschluckt worden. Gerade erst waren sie vom Hof der Martinis zurückgekehrt.
Wiebke Blessing holte eine Frischhaltebox aus ihrer Tasche. Apfel- und Mandarinenspalten.
»Möchtest du?« Sie hielt sie Zagrosek hin.
»Hm-hm. Gerne.« Er griff zu, merkte erst jetzt, wie hungrig er war.
Blessing holte ihr Handy heraus und kontrollierte das Display. Sie legte es vor sich auf den Tisch. »Zuerst die abgeschlagenen Baumspitzen. Vier Wochen später verbrennt Konrad Verhoeven. Wieder zwei Wochen später stirbt der Nachbar.«
»Suizid.«
»Trotzdem,« meinte Blessing. »Was ist da los in diesem Herkenbroich?«
Maxi kam herein und stellte einen riesigen Pappteller mit Weihnachtsplätzchen auf den Schreibtisch. »Mit Grüßen von Dagmar Kleinschmidt. Selbst gebacken. Sind aber für uns alle. Nehmt euch, was ihr braucht.«
»Hast du vielleicht einen Kaffee dazu?«, fragte Zagrosek.
»Weil ihr es seid.« Maxi schnappte sich ein Spritzgebäck in Pistolenform und ging kauend hinaus.
»Wir hatten mal einen ähnlichen Fall. Vor zwei Jahren in Gerresheim«, meinte Zagrosek, während er sich Spekulatius vom Teller nahm. »Ältere Leute. Sie hat Krebs gehabt, er hat sie gepflegt. Sie hat Tabletten genommen, er hat sie und dann sich selbst erschossen.«
»Du meinst, auch die Martinis wollten gemeinsam Schluss machen?«
»Vielleicht.«
»Und er hat es nicht über sich gebracht, bei ihr abzudrücken?«
»Die Auffindesituation spricht dafür«, meinte Zagrosek. »Die Waffe lag rechts neben ihm, nur bei ihm waren Schmauchspuren. An der rechten Hand. Gisela Martini kann ihn nicht erschossen haben. Wenn nicht noch eine dritte Person im Spiel war, wird es so abgelaufen sein wie in Gerresheim, nur dass Gisela Martini am Leben blieb.«
»Warten wir ab, was bei der Obduktion herauskommt.« Blessing steckte sich ein Plätzchen in den Mund. »Und was Gisela Martini sagt, wenn sie aufwacht.«
Maxi brachte zwei Tassen Kaffee herein.
Zagrosek versuchte, sich die letzten Minuten von Gisela Martini vorzustellen. Sie lag auf der linken Bettseite, in der Hand eine fast leere Packung Schlaftabletten. Neben ihr auf dem Nachttisch ein leeres Wasserglas. Ihr letzter Gedanke, bevor sie weggedämmert war, hatte ihrem Mann Walther gegolten. Er hatte ihr ein Versprechen gegeben. Doch er hatte es nicht gehalten. Er hatte sie allein zurück gelassen. Ob er es nicht geschafft hatte, abzudrücken, oder ob er sie von Anfang an belogen hatte? Zum Glück
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