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Die Kalte Zeit

Die Kalte Zeit

Titel: Die Kalte Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Kliem
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Haare verstrubbelt, den ruhigen, tiefen Kinderschlaf noch in den Augen. Gesa nahm ihn in den Arm, spürte seine Wärme. Er schmiegte sich an sie. »Mama? Darf ich heute meine Lego-Figuren mit in die Schule nehmen?«
    »Ach Schatz, lieber nicht. Die lenken euch nur vom Unterricht ab. Und außerdem könnten sie geklaut werden, und dann bist du traurig.«
    »Bitte, Mama, bitte, bitte, bitte.«
    Gesa seufzte. »Ich weiß nicht . . .«
    Seit dem Tod ihres Vaters schaffte sie es nicht mehr, streng zu sein. Sie ließ Felix das Meiste durchgehen, konnte sich nicht gegen den geringsten Widerstand durchsetzen. Felix las die Unentschlossenheit in ihren Augen und stürmte mit einem Jauchzer aus dem Bad.
    Gesa sah in den Spiegel. Dunkle Schatten unter den Augen, ihr Haar hing trotz der neuen Frisur strähnig herab. Sie ließ kaltes Wasser in die Hände laufen und tauchte ihr Gesicht hinein. Wieder und wieder, bis die Bilder des Traums fortgespült waren.
    Wolf saß in der Küche und trank Kaffee. Seit sie die Maschine gekauft hatten, bei der er nur auf einen Knopf drücken musste, verpflegte er sich morgens selbst.
    Er sah auf die Uhr und stand auf. »Bis später dann.« Er kam zu ihr und gab ihr einen Abschiedskuss. Das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Gesa räumte seine Tasse in die Spülmaschine, während sie ihn die Treppe herunter laufen hörte.
    Unten an der Hoftür hing der Arbeitsplan für alle, den Wolf täglich auf dem Computer schrieb und abends ausdruckte. Wenn er weg war, würde sie nachsehen, was Wolf heute zu tun hatte.
    Sie hoffte, dass er gleich auf den Lagerplatz fahren würde. Denn sie wollte in die Kultur hinter dem Haus gehen und sich die zerstörten Tannen ohne die Spitzen genauer ansehen. Es war eine mühsame Arbeit, die ihr bevorstand. Wenn die jungen Triebe im Frühsommer wuchsen, musste sie jede einzelne Tanne prüfen, ob es einen geeigneten Seitentrieb gab, den sie hochbinden konnte. Mit etwas Glück bildete sich dann in ein bis zwei Jahren eine neue Spitze aus, und man konnte die Tanne, wenn auch nur als B-Qualität, verkaufen.
    »Gesa!«
    Gesa zuckte zusammen. Wolf klang wütend. Sie trat zur Treppe und sah hinunter. Wolf stand unten im Flur und hielt eine grün-weiße Zeitschrift in der Hand. Die neue Ausgabe des ‚Nadel Journals’. »Kannst du mir das hier erklären?«
    »Was denn?« Gesa wusste, was nun kam.
    »Wie kommt dieser Artikel hier rein?«
    Gesa lief die Treppe herunter und nahm das Heft entgegen. Christine Piske hatte ihre Ankündigung wahr gemacht. ‚Innovation in Sachen Nordmann’ lautete der Titel auf dem Cover. Der Artikel stand weit vorne im Heft. ‚Gesa Hendricks aus dem Kreis Neuss beerntet über dreißig Jahre alte Auslesebäume. An den Nordmanntannen aus der Herkunft Borshomi in Georgien reifen Zapfen mit Qualitätssamen . . .’
    »Hast du ein Interview gegeben?«
    Gesa konnte Wolf nicht ansehen. Das war alles viel zu schnell gegangen. Sie hatte mit Konrad und Wolf sprechen wollen, sie darauf vorbereiten wollen, dass der Artikel erscheinen würde. Aber sie hatte nichts gesagt. Nun war Konrad tot. Und weiter hatte sie die Zeit nutzlos verstreichen lassen. Bis es zu spät war, um mit Wolf zu reden. Christine Piske hatte Tatsachen geschaffen. Wie sie es angekündigt hatte.
    »Ich habe nur . . .« Gesa suchte nach Worten. »Ich habe mit der Journalistin gesprochen. Aber ich wollte nicht, dass sie darüber berichtet. Ich wusste ja nicht . . .«
    Wolf drehte sich um und verschwand auf den Hof. Die Tür knallte er zu.
    Eine Viertelstunde später schickte Gesa Felix los zum Schulbus. Wie immer sah sie ihm aus dem Wohnzimmerfenster nach. Heute verschwand sein bunter Schulranzen nach wenigen Metern in dichtem Nebel.
    Um halb Zehn wollte Gesa mit Anna zur Metro nach Düsseldorf fahren. Noch knapp zwei Stunden blieben ihr. Sie verschob ihren Plan, die zerstörte Tannenkultur anzuschauen. Nicht noch mehr Ärger mit Wolf riskieren. Sie zog einen von Annas Kitteln über Jeans und T-Shirt. Es war ein grauer Fetzen mit Blümchenmuster, in dem sie sich hässlich fühlte. Sie ließ heißes Wasser in einen Eimer laufen, gab Allzweckreiniger dazu und hängte die Küchenstühle mit der Sitzfläche über den Tisch. Als sie den Feudel aus dem Geräteschrank nahm, um den Boden zu wischen, hörte sie ein Auto auf den Hof fahren. Ein dunkelroter Golf mit Düsseldorfer Kennzeichen. Wer konnte das so früh sein? Ein schlanker Mann mit Hut und langem grauen Mantel stieg aus, das Gesicht zuerst

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