Die Kalte Zeit
von weißen Atemwolken verhüllt, dann erkannte sie ihn: Es war Lars. Wo waren sein Polizeiwagen und seine Uniform? Oder war er gar nicht dienstlich hier?
Gesa riss sich den Kittel vom Leib und lief die Treppe hinunter. Als sie die Hoftür öffnete, stand er schon davor, die Hand erhoben, um zu klopfen.
»Oh! Du bist aber schnell«, sagte er.
»Ich hatte den Wagen gehört.«
Sie lächelten beide, dann sah Lars zu Boden. »Ich habe erfahren, was mit deinem Vater passiert ist. Mein Beileid, Gesa.«
»Danke.«
»Wie geht es dir denn?«
»Es geht schon. Ehrlich gesagt komme ich kaum zum Nachdenken.«
»Du siehst so verändert aus.«
»Das liegt an der neuen Frisur. Die hab ich schon etwas länger.«
»Gefällt mir sehr.«
»Oh danke.« Gesa lächelte verlegen. Die Kälte biss in ihre Haut, sie rieb sich über die nackten Arme. »Willst du reinkommen?«
»Ja, gern. Wo sind denn alle?«
»Felix ist schon los zur Schule, und Wolf wollte zum Lagerplatz.« Wo Anna steckte, wusste Gesa nicht. Hoffentlich weit weg.
In der Küche stellte Gesa einen Stuhl zurück auf den Boden. Aber dadurch wirkte es auch nicht gemütlicher. Also nahm sie alle Stühle wieder herunter. Lars half ihr.
»Setz dich doch.«
Er blieb stehen und drehte den Hut in der Hand.
Gesa musste ihn die ganze Zeit ansehen. Er wirkte selbst so verändert in diesem eleganten Mantel, so mondän. Der Stoff schimmerte weich im Schein der Tischlampe.
»Ich habe gehört, es war Brandstiftung«, sagte Lars. »Wer zündet denn diese alten Tannen an? Und warum? Und wieso war dein Vater da draußen? Mitten in der Nacht?«
»Du stellst die gleichen Fragen wie die Kommissare. Ich weiß es doch auch nicht.« Gesa wischte ein paar Krümel vom Tisch.
»Ich hab schon vor über einer Woche von Konrads Tod gehört. Ich wollte nach dir sehen.«
Gesa sah ihn an.
»Aber ich hatte Angst herzukommen.«
»Warum?«
»Nun, wo Konrad tot ist . . . Ich weiß nicht, ob es dir auch so geht, aber ich musste an früher denken. Als wir uns getrennt haben. Ich habe mich oft gefragt, ob das die richtige Entscheidung war.« Lars wandte sich ab und sah aus dem Fenster. »Nein, das stimmt nicht. Für mich war es nicht die richtige Entscheidung. Aber für dich? Ich stelle mir immer wieder die gleiche Frage: Hast du mich verlassen, weil Konrad es wollte oder hast du mich wirklich nicht geliebt?«
Gesa setzte sich. Sie meinte etwas im Raum zu spüren, es war ein Gefühl, als sei noch jemand da und beobachtete sie beide. Sie fror auf einmal.
»Ich hab deine Frau gesehen«, sagte sie. »In Büttgen in einem Geschäft, es war ein merkwürdiger Zufall.«
Lars’ Finger spielten mit der Hutkrempe. »Wir leben getrennt. Seit ein paar Monaten.«
»Ah.« Getrennt, bevor Lars und sie sich wieder begegnet waren. Gesa spürte Erleichterung. Sie konnte nicht der Auslöser gewesen sein. Und wenn sie Lars nun sagte, dass sie auch an früher gedacht hatte? Sich ein Leben an seiner Seite vorgestellt, erträumt hatte? Was würde passieren, wenn sie das sagte? Sie würde etwas in Gang setzen, das sie nicht kontrollieren konnte.
Sie dachte an Wolfs Worte. ‚Lass uns an einem Strang ziehen, Gesa. Wir beide haben schon viel gemeinsam geschafft. Und wir sind doch glücklich zusammen.’ Er hatte so zuversichtlich geklungen. So sicher. War das ihr Weg? Ihre eigenen Pläne musste sie aufgeben, sich Wolf unterordnen, aber dafür gab er ihr Sicherheit.
Nur der Zeiger der Küchenuhr bewegte sich noch, sein Ticken schlug die Zeit in Stücke. Die Trümmer türmten sich zu einer unsichtbaren Wand zwischen ihnen auf.
Als Lars sich räusperte, fuhr Gesa zusammen.
»Die Soko ‚Tannenspitze’ wird aufgelöst. Das wollte ich dir persönlich sagen. Wir konnten diejenigen, die eure Tannen zerstört haben, nicht ermitteln. Aber der Fall ist damit nicht abgeschlossen. Vor allem nach dem, was nun mit deinem Vater geschehen ist.«
Lars legte seine Hand auf ihre Schulter. Gesa nahm nichts anderes mehr wahr als diese Berührung. Sie spannte alle Glieder an. Bildete sie es sich ein, oder bewegten sich Lars’ Finger? Streichelten sie ihren Hals? Spielten sie nun sanft mit ihrem Haar? Gesa saß bewegungslos, es gelang ihr kaum zu atmen.
Jetzt hatte sie Angst. Konrad war da. Er konnte sie beide sehen.
»Gesa? Was ist denn los?« Lars suchte ihren Blick.
»Nichts«, sagte sie schroff.
»Du wirkst so abwesend.«
»Nein, es ist alles in Ordnung.«
Er ließ die Hand sinken, langsam und zögernd.
»Na gut . . .«
Weitere Kostenlose Bücher