Die Kammer
haben hier ein ungeschriebenes Gesetz, das in den letzten zweiundsiebzig Stunden vor der Hinrichtung fast uneingeschränkt Besuche gestattet. Solange kein Sicherheitsrisiko besteht, darf der Verurteilte so ziemlich alles tun. Vorn gibt es ein kleines Büro mit einem Schreibtisch und einem Telefon, und das wird dann das Besucherzimmer. Dort wimmelt es gewöhnlich von allen möglichen Leuten - Großmüttern, Nichten, Neffen, Cousins, Tanten vor allem bei den Afrikanern. Ganze Busladungen voll Verwandte, die keine fünf Minuten darauf verwendet haben, an den Verurteilten zu denken, tauchen plötzlich auf, um die letzten Stunden mit ihm zu verbringen. Es ist fast ein gesellschaftliches Ereignis.
Einer anderen Regel zufolge, die bestimmt auch nirgendwo schriftlich festgelegt ist, steht dem Verurteilten ein letzter Besuch der Ehefrau zu. Wenn es keine Ehefrau gibt, dann erlaubt der Direktor in seiner grenzenlosen Güte eine kurze Zusammenkunft mit einer Freundin. Eine letzte schnelle Nummer, bevor der tolle Liebhaber den Löffel abgibt.« Sam warf einen kurzen Blick auf Stock, dann beugte er sich noch näher an das Gitter heran.
»Nun, der alte Stock ist einer der beliebteren Insassen des Traktes, und irgendwie hat er den Direktor davon überzeugt, daß er sowohl eine Ehefrau als auch eine Freundin hat und daß diese Damen willens wären, ein paar Momente mit ihm zu verbringen, bevor er stirbt. Gleichzeitig! Alle drei zusammen! Der Direktor hat angeblich gewußt, daß da etwas vorging, was nicht astrein war, aber alle mögen Stock, und schließlich waren sie ohnehin im Begriff, ihn umzubringen, also, na wenn schon. Stock saß also in dem kleinen Zimmer mit seiner Mutter, seinen Schwestern und Cousins und Nichten, einer ganzen Horde von Afrikanern, von denen die meisten in den letzten zehn Jahren nicht einmal seinen Namen erwähnt hatten, und verzehrte seine Henkersmahlzeit aus Steak und Kartoffeln, während alle anderen weinten und trauerten und beteten. Als noch ungefähr vier Stunden geblieben waren, leerten sie das Zimmer und schickten die Verwandtschaft in die Kapelle. Stock wartete ein paar Minuten, während ein Transporter seine Frau und seine Freundin brachte. Sie trafen in Begleitung von Wärtern ein und wurden in das kleine Büro geführt, in dem Stock wartete, bereit und voller Vorfreude. Der arme Kerl hatte bereits zwölf Jahre im Trakt hinter sich.
Nun, sie brachten eine kleine Liege, und Stock und seine Frauen legten sich drauf. Die Wärter sagten später, Stock hätte aber ein paar gutaussehende Frauen, und ihnen wäre damals schon aufgefallen, wie jung sie aussahen. Stock war gerade im Begriff, sich entweder an seine Frau oder seine Freundin heranzumachen, als das Telefon läutete. Es war sein Anwalt, der ihm völlig atemlos und unter Tränen die wunderbare Nachricht ins Ohr trompetete, daß das Fünfte Berufungsgericht einen Aufschub gewährt hatte.
Stock legte einfach den Hörer auf. Er hatte im Moment Wichtigeres zu tun. Ein paar Minuten vergingen, dann klingelte das Telefon wieder. Stock nahm ab. Es war wieder sein Anwalt, und diesmal war er wesentlich gefaßter, als er Stock die juristischen Manöver erklärte, die ihm das Leben gerettet hatten, jedenfalls für den Augenblick. Stock bekundete seine Anerkennung, dann bat er den Anwalt, es noch eine Stunde für sich zu behalten.«
Adam warf wieder einen Blick nach rechts und fragte sich, welcher der beiden Anwälte Stock angerufen hatte, während er von seinem verfassungsmäßigen Recht eines letzten ehelichen Verkehrs Gebrauch machte.
»Nun, inzwischen hatte das Büro des Justizministers mit dem Direktor gesprochen, und die Hinrichtung war abgesagt worden. Aber das kümmerte Stock nicht. Er machte weiter, als würde er nie wieder eine Frau zu Gesicht bekommen. Die Tür zu dem Raum läßt sich aus naheliegenden Gründen von innen nicht abschließen, also klopfte Naifeh, nachdem er eine Weile geduldig gewartet hatte, höflich an und forderte Stock auf, herauszukommen. Zeit, in Ihre Zelle zurückzukehren, Stock, sagte er. Stock sagte, er brauche nur noch fünf Minuten. Nein, sagte Naifeh. Bitte, bettelte Stock, und plötzlich waren wieder Geräusche zu hören. Also grinste der Direktor die Wärter an, die wiederum den Direktor angrinsten, und fünf Minuten lang betrachteten sie geduldig den Fußboden, während die Liege knarrte und in dem kleinen Raum herumrutschte.
Endlich öffnete Stock die Tür und kam herausstolziert wie der Weltmeister im
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