Die Kammer
der hier drüben sitzt, junger Mann, das sind meine Handgelenke und Knöchel, die man festschnallen wird. Das ist meine Nase, in die das Gas eindringen wird.«
»Nein. An Eckes erinnere ich mich nicht.«
»Was haben Sie überhaupt gelesen?«
»Alle wichtigen Fälle.«
»Haben Sie Barefoot gelesen?«
»Natürlich.«
»Erzählen Sie mir von Barefoot.«
» Was ist das, eine Quizsendung?«
»Das ist, was immer ich will. Woher stammte Barefoot«
fragte Sam.
»Daran erinnere ich mich nicht. Aber die volle Bezeichnung war Barefoot gegen Estelle, eine Grundsatzentscheidung des Obersten Bundesgerichts im Jahr 1983, die besagte, daß zum Tode Verurteilte in einem Berufungsverfahren stichhaltige Aussagen nicht zurückhalten dürfen, um sie für später aufzuheben. So ungefähr jedenfalls.«
»Donnerwetter, Sie haben es tatsächlich gelesen. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie dasselbe Gericht seine Ansicht ändert, wann immer es ihm in den Kram paßt? Zwei Jahrhunderte lang hat das Oberste Bundesgericht die Vollstreckung von Todesurteilen zugelassen. Sagte, sie wären verfassungskonform, in voller Übereinstimmung mit dem Achten Verfassungszusatz. Dann, 1972, hat das Oberste Bundesgericht dieselbe, unveränderte Verfassung gelesen und die Todesstrafe für rechtswidrig erklärt. 1976 hat das Oberste Bundesgericht dann gesagt, Hinrichtungen wären doch verfassungskonform. Immer dieselben Schwachköpfe in denselben schwarzen Talaren in demselben Gebäude in Washington. Und jetzt ändert das Oberste Bundesgericht mit derselben Verfassung schon wieder die Gesetze. Diese ReaganLeute haben es satt, so viele Berufungen lesen zu müssen, also erklären sie bestimmte Wege für gesperrt. Kommt mir sehr merkwürdig vor.«
»Das kommt vielen Leuten merkwürdig vor.«
»Was ist mit Dulaneyl« fragte Sam nach einem langen Zug an seiner Zigarette. In dem Zimmer gab es kaum oder überhaupt keine Belüftung, und über ihnen bildete sich eine Wolke. »Wo war das?«
»In Louisiana. Den haben Sie doch bestimmt gelesen.«
»Vermutlich. Wahrscheinlich habe ich mehr Fälle gelesen als Sie, aber ich mache mir nicht immer die Mühe, sie in meinem Gedächtnis zu speichern, sofern ich nicht vorhabe, sie zu verwenden.«
»Sie wozu verwenden?«
»Bei Anträgen und Eingaben.«
»Also hatten Sie schon früher mit Todeskandidaten zu tun? Wie viele Fälle?«
»Dies ist der erste.«
»Weshalb tröstet mich das nicht? Diese jüdischamerikanischen Anwälte bei Kravitz & Bane haben Sie hergeschickt, damit Sie mit mir experimentieren können, stimmt's? Damit Sie ein paar praktische Erfahrungen sammeln können. So was macht sich schließlich immer gut im Lebenslauf.«
»Ich sagte es bereits - sie haben mich nicht hergeschickt.«
»Was macht Garner Goodman? Ist er noch am Leben?«
»Ja. Er ist in Ihrem Alter.«
»Dann bleibt ihm nicht mehr viel Zeit, oder? Und Tyner?«
»Mr. Tyner geht es gut. Ich sage ihm, daß Sie sich nach ihm erkundigt haben.«
»Ja, tun Sie das. Sagen Sie ihm, daß ich ihn vermisse, ihn und Goodman. Schließlich habe ich fast zwei Jahre gebraucht, sie mir vom Hals zu schaffen.«
»Sie haben für Sie getan, was sie nur konnten.«
»Dann sagen Sie ihnen, sie sollen mir eine Rechnung schicken.« Sann kicherte leise und lächelte zum erstenmal. Er drückte seine Zigarette in der Schale aus und zündete sich eine neue an. »Tatsache ist, Mr. Hall, daß ich Anwälte hasse.«
»Das ist in Amerika nichts Ungewöhnliches.«
»Anwälte haben mich gejagt, mich angeklag, mich verfolgt, mir einen Strick gedreht und mich dann hierher geschickt. Seit ich hier bin, haben sie mich keine Minute in Ruhe gelassen, mir noch mehr Stricke gedreht und mich angelogen, und jetzt sind sie wieder da in Gestalt von Ihnen, einem übereifrigen Grünschnabel, der noch nicht einmal imstande ist, das verdammte Gericht zu finden.«
»Dann könnte Ihnen eine Überraschung bevorstehen.«
»Es wäre die größte Überraschung meines Lebens, junger Mann, wenn Sie Ihr Arschloch von einem Loch in der Erde unterscheiden könnten. Sie wären dann von den Schwachköpfen von Kravitz & Bane der erste, der das kann.«
»Sie haben Sie immerhin sieben Jahre vor der Gaskammer bewahrt.«
»Und dafür soll ich ihnen dankbar sein? Hier gibt es fünfzehn Männer, die noch länger hier sitzen als ich. Weshalb sollte ich der nächste sein? Ich bin seit neuneinhalb Jahren hier. Treemont ist seit vierzehn Jahren hier. Aber er ist natürlich ein AfroAmerikaner, und
Weitere Kostenlose Bücher