Die Kammer
möchte die Möglichkeit dazu haben.«
Sam zündete schließlich die Zigarette an. Er inhalierte tief, dann stieß er den Rauch durch eine kleine Öffnung zwischen den Lippen aus. Er lehnte sich auf den Ellenbogen leicht vor und schaute durch die Öffnung in dem Gitter. »Aus welchem Teil von Kalifornien kommen Sie?«
»Aus dem südlichen. Los Angeles.« Adam schaute in die durchdringenden Augen, dann wandte er den Blick ab. »Ihre Angehörigen leben noch dort?«
Ein scharfer Schmerz schoß durch Adams Brustkorb, und eine Sekunde lang blieb sein Herz stehen. Sam paffte an seiner Zigarette und schaute ihn unverwandt an.
»Mein Vater ist tot«, sagte Adam mit zittriger Stimme und sackte ein paar Zentimeter auf seinem Stuhl zusammen. Eine lange Minute verging, während der Sam ganz vorn auf der Kante seines Stuhles saß. Schließlich sagte er: »Und Ihre Mutter?«
»Sie lebt in Portland. Hat wieder geheiratet.«
»Wo ist Ihre Schwester?«
Adam schloß die Augen und ließ den Kopf sinken. »Sie studiert«, murmelte er.
»Sie heißt Carmen, stimmt's?« fragte Sam leise.
Adam nickte. »Woher wissen Sie das?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Sam wich von dem Gitter zurück und sackte in dem metallenen Klappstuhl zusammen. Er ließ die brennende Zigarette auf den Boden fallen, ohne sie anzusehen. »Weshalb bist du hergekommen?« fragte er, jetzt mit wesentlich kraftvollerer Stimme.
»Woher hast du gewußt, daß ich es bin?«
»Die Stimme. Du hörst dich an wie dein Vater. Weshalb bist du hergekommen?«
»Eddie hat mich geschickt.«
Ihre Blicke trafen sich kurz, dann schaute Sam weg. Er beugte sich langsam vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. Sein Blick war auf etwas auf dem Boden geheftet. Er saß völlig regungslos da.
Dann legte er die rechte Hand über die Augen.
10
P hilip Naifeh war dreiundsechzig Jahre alt und stand neunzehn Monate vor der Pensionierung. Neunzehn Monate und vier Tage. Er war siebenundzwanzig Jahre lang Leiter der Abteilung für Strafvollzugsanstalten des Staates Mississippi gewesen und hatte dabei sechs Gouverneure überdauert, ein Heer von Gesetzgebern, tausend Gefangenenprozesse, ungezählte Einmischungen durch die Bundesgerichte und etliche Hinrichtungen, an die er sich nur höchst ungern erinnerte.
Der Direktor - er zog diesen Titel vor, obwohl es ihn in der Terminologie der staatlichen Behörden offiziell nicht gab - war ein Libanese, dessen Eltern in den zwanziger Jahren eingewandert waren und sich im Delta niedergelassen hatten. Sie hatten einen kleinen, gutgehenden Gemischtwarenladen in Clarksdale geführt, wo seine Mutter mit ihren selbstgemachten libanesischen Süßspeisen zu einigem Ruhm gelangt war. Er besuchte staatliche Schulen und anschließend das College, kehrte dann zum Staat zurück und begann, aus längst vergessenen Gründen, im Strafvollzug zu arbeiten.
Er haßte die Todesstrafe. Er verstand, weshalb die Gesellschaft nach ihr verlangte, und hatte all die sterilen Gründe für ihre Notwendigkeit schon vor langer Zeit auswendig gelernt. Sie hatte abschreckende Wirkung. Sie schaffte Killer aus der Welt. Sie war die höchstmögliche Strafe. Sie war biblisch. Sie befriedigte das Verlangen der Öffentlichkeit nach Vergeltung. Sie linderte den Schmerz der Angehörigen der Opfer. Wenn es sein mußte, konnte er diese Argumente ebenso überzeugend vortragen wie ein Ankläger. An eines oder zwei von ihnen glaubte er sogar.
Aber auf seinen Schultern lag die Bürde des eigentlichen Tötens, und dieser grauenhafte Aspekt seines Jobs war ihm zutiefst zuwider. Es war Philip Naifeh, der den Verurteilten aus seiner Zelle in den sogenannten Isolierraum brachte, in dem er die letzte Stunde vor seinem Tod verbringen mußte. Es war Philip Naifeh, der ihn in den Kammerraum nebenan begleitete und das Anschnallen der Arme, der Beine und des Kopfes überwachte. »Irgendwelche letzten Worte?« hatte er in siebenundzwanzig Jahren Zweiundzwanzigmahl gemurmelt. Es war seine Aufgabe, den Wärtern zu sagen, daß sie die Tür der Gaskammer abschließen sollten, und es war seine Aufgabe, den Vollstrecker mit einem Kopfnicken anzuweisen, die Hebel zu bedienen und das tödliche Gas zu mischen. Den ersten beiden hatte er sogar ins Gesicht gesehen, als sie starben, doch dann war er zu dem Schluß gekommen, daß er besser daran tat, die Gesichter der Zeugen zu beobechten, die in dem kleinen Raum hinter der Kammer zusahen. Er mußte die Zeugen auswählen. Er mußte hundert Dinge
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