Die Kampagne
Shaw war irgendwo da drin und bekam die ganze Geschichte aufgetischt, und sie war hier draußen und hatte einen Dreck.
Wenn ich nur wieder ganz oben wäre! Der dritte Pulitzerpreis.
Katie war so tief in Gedanken, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte, als jemand ihren Arm berührte. Sie fuhr herum und sah einen Fremden vor sich stehen, eine Fellkappe in der Hand. Seine großen, nervösen Augen waren auf sie gerichtet.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Katie misstrauisch.
»Sie sind Journalistin, ja?« Die Stimme des Mannes klang seltsam hoch und strotzte nicht gerade vor Selbstbewusstsein. Katie fiel es nicht schwer zu erraten, dass Englisch nicht die Muttersprache dieses Mannes war. Er war klein und spindeldürr, seine Zähne schief und gelb, seine Kleidung zerschlissen.
»Wer will das wissen?« Katie schaute dem Mann über die Schulter, als rechnete sie damit, dort noch jemand anderen zu sehen.
Der Mann drehte sich wieder zum Gebäude der Phoenix Group um. »Ich bin jeden Tag hierhergekommen, um es mir anzuschauen. Diesen Ort, meine ich.« Er schauderte.
»Ja, es ist verstörend«, sagte Katie, die dem Mann noch immer misstraute.
Der Mann schien ihr Unbehagen zu spüren. »Mein Name ist Aron Lesnik. Ich bin aus Krakau. Das liegt in Polen«, fügte er hinzu.
»Ich weiß, wo Krakau liegt«, erwiderte Katie. »Ich war schon dort. Was wollen Sie von mir?«
»Ich habe Sie mit dem Polizisten reden sehen. Ich habe Sie sagen hören, dass Sie Journalist sind. Stimmt das? Sind Sie Journalistin?«
»Ja. Und?«
Lesnik schaute noch einmal zum Gebäude. Als er sich wieder zu Katie umdrehte, standen ihm Tränen in den Augen. »Es tut mir schrecklich leid um die Leute. Es waren gute Menschen, und nun sind sie tot.« Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und schaute Katie betrübt an.
»Ja, es ist eine Tragödie. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.« Katie fragte sich, warum ausgerechnet sie immer die Irren am Hals hatte. Doch die nächsten Worte des Mannes verscheuchten diesen Gedanken.
»Ich war da drin. An dem Tag.« Er sprach mit heiserer Stimme.
»Was?« Katie glaubte sich verhört zu haben. »Wo drin?«
Lesnik deutete auf das Gebäude der Phoenix Group. »Da drin«, wiederholte er, und seine Stimme bekam einen gequälten Unterton.
»Wo die Morde passiert sind?«
Lesnik nickte so heftig wie ein Kind, das ein Geständnis machte.
»Was haben Sie da drin gemacht?«
»Ich habe nach Arbeit gesucht. Nach einem Job. Mein Englisch ist nicht so gut, aber
ich bin gut mit Computern. Ich hatte einen Termin an dem Tag ... dem schlimmen Ta g.«
»Nur damit ich das richtig verstehe«, sagte Katie und bemühte sich vergeblich, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. »Sie waren zu einem Bewerbungsgespräch in dem Gebäude, als die Leute ermordet wurden?«
Lesnik nickte. »Ja.« Wieder traten ihm Tränen in die Augen.
»Wie kommt es dann, dass Sie davongekommen sind?«, fragte Katie misstrauisch.
»Ich habe die Schüsse gehört. Ich kenne das Geräusch von Schüssen. Ich war ein Junge damals in Krakau, als die Sowjets mit Gewehren kamen. Also habe ich mich versteckt.«
Katies Misstrauen schwand ein wenig. Auch sie hatte sich bei Auslandseinsätzen schon vor Bewaffneten verstecken müssen. »Und wo im Gebäude haben Sie sich versteckt?«
»In einem kleinen Raum im zweiten Stock ist eine Kopiermaschine. Die hat Türen, hinter denen ein winziger Stauraum ist. Ich bin nicht groß, also bin ich reingeklettert und bin dort geblieben, bis das Schießen aufgehört hat. Dann bin ich wieder rausgeklettert. Ich glaube, die Männer hätten mich ebenfalls erschossen, wenn sie mich entdeckt hätten. Aber sie haben mich nicht gefunden. Ich hatte Glück.«
Katie konnte vor Aufregung kaum noch an sich halten. »Ich glaube, wir sollten nicht hier darüber reden. Warum gehen wir nicht woandershin?«
Lesnik wich sofort zurück. »Nein. Ich habe genug gesagt. Ich komme jeden Tag hierher. Ich komme, weil ich nicht wegbleiben kann. Diese Leute sind alle tot. Alle außer mir. Ich sollte auch tot sein.«
»Sagen Sie das nicht. Es ist offensichtlich, dass für Sie die Zeit noch nicht gekommen war. Wie Sie gesagt haben: Sie hatten Glück. Außerdem wird es Ihnen guttun, sich die Sache von der Seele zu reden«, drängte Katie.
»Nein. Nein! Ich bin nur zu Ihnen gekommen, weil ich gehört habe, dass Sie Journalistin sind. In Polen haben wir Journalisten, die Helden sind. Sie haben sich gegen die Sowjets gestellt. Mein
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