Die Kampagne
Totenstille. Trotzdem sprachen die Toten bisweilen lauter als alle Lebenden.
Sprich mit mir, Anna. Sag mir, was passiert ist.
Shaw schaute sich den Fleck genauer an und glaubte, ganz schwach einen Teil eines Fußabdrucks zu erkennen. Er war allerdings nicht groß genug, um bei der Untersuchung von Nutzen zu sein; deshalb hatte Royce ihn vermutlich nicht erwähnt. Shaw ging zu Annas Schreibtisch und setzte sich auf ihren Stuhl. Ihr Computer war von Royces Leuten zur Überprüfung fortgeschafft worden, doch auf ihrem Tisch lagen noch immer die Unterlagen, an denen sie gearbeitet hatte. Der einzige Unterschied zu sonst war, dass jeder einzelne Gegenstand als Beweismittel eingetütet worden war.
Shaw nahm sich solch eine Tüte. Durch das Plastik konnte er Annas Handschrift am Rand eines Ausdrucks erkennen. Shaw legte die Beweistüte weg und nahm sich eine andere.
Die darin aufbewahrten Dokumente zeigten, dass Anna damit beschäftigt gewesen war, die Propagandaelemente der Rote-Gefahr-Kampagne zusammenzustellen. Auch wenn ihre Fingerabdrücke überall auf dem Papier zu finden waren - Shaw wusste, dass allein der Gedanke lächerlich war, Anna könne sich an solch einer Kampagne beteiligt haben. Und selbst wenn er noch Zweifel gehabt hätte, wären sie nun zerstreut worden, denn auf den Papieren fand sich keine einzige Anmerkung. Jedem, der Anna gekannt hatte, wäre dies sofort aufgefallen; doch Shaw wusste auch, dass der Rest der Welt das schwerlich als Beweis akzeptieren würde.
Sie müssen Annas Finger auf die Papiere gedrückt haben, nachdem sie sie erschossen haben ... wie bei allen anderen. Und sie haben Anna auch noch in den Kopf geschossen, obwohl die Schüsse durch die Brust allein schon tödlich gewesen wären. Es wird mir großes Vergnügen bereiten, jeden einzelnen dieser herzlosen Bastarde umzubringen.
Shaw vermutete, dass man auch kompromittierende Daten auf den Computer geladen hatte. Prüfte man alles sorgfältig, würde man vielleicht feststellen, dass diese Daten erst am Tag der Morde abgespeichert worden waren; aber wenn jemand wirklich wusste, was er tat, würde man das nicht beweisen können.
Shaw beschloss, Royce nichts von seinen Zweifeln an den Beweisen zu erzählen; schließlich wusste er nicht, wie die Sache sich entwickeln würde. Auch wenn er jetzt so tat, als würde er bereitwillig mit Royce zusammenarbeiten, so wusste er doch, dass seine Interessen und die des MI5 sich irgendwann voneinander entfernen würden.
Royce wollte die Täter verhaften.
Shaw wollte sie töten.
Feng hatte zugegeben, dass die chinesische Regierung Verbindungen zur Phoenix Group besaß. Versuchte jemand, es so aussehen zu lassen, als steckten die Chinesen hinter der antirussischen Kampagne? Aber wer? Und warum? Russland gegen China? Was für ein Irrer würde solch ein Szenario wollen?
Und Anna war mitten in diese Sache hineingeraten ...
Aber warum hatte man sich ausgerechnet die Phoenix Group als Ziel ausgesucht? War es nur Zufall, dass das Unternehmen Verbindungen zur chinesischen Regierung unterhielt? Nein, das kann nicht sein.
Die Killer hatten offensichtlich von dieser Verbindung erfahren, was sie einiges an Arbeit gekostet haben musste. Aber es gab mit Sicherheit Zehntausende von Organisationen auf der Welt, die Verbindungen zu China hatten. Warum hier? Warum Anna?
Shaw ging zum Regal und nahm sich eines der Fotos. Es war an dem Abend aufgenommen worden, als er Anna den Heiratsantrag gemacht hatte. Sie hatte den Kellner gebeten, das Foto zu schießen und dabei Wert darauf gelegt, dass der Verlobungsring mit aufs Bild kam. Ihr Lächeln, geprägt von der Vorfreude auf eine strahlende Zukunft, ließ Shaw den Schmerz im Arm vergessen, denn sein Herz schmerzte noch viel mehr.
Shaw konnte keine Sekunde länger hierbleiben. Er rannte die Treppe hinunter und stieß die Vordertür auf. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Das Bild von Anna, die tot ins Zimmer fiel, und von ihrem Mörder, der sich über sie beugte, während er, Shaw, weit weg und hilflos war ... Das war zu viel. Es drohte, ihn zu verbrennen.
Shaw stürmte am diensthabenden Polizeibeamten vorbei und auf die Straße. Den Bruchteil einer Sekunde später prallte er gegen jemanden und stieß ihn auf den Bürgersteig.
Er streckte die Hand aus, um dem Gestürzten aufzuhelfen, eine Entschuldigung auf den Lippen, die er jedoch niemals aussprach. Stattdessen starrte er mit weit aufgerissenen Augen die Frau an.
Katie rappelte
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