Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
gerade als ich dachte, ich hätte diese ganze Arie mit den Seelenreisen im Griff, beschloss ebendiese Seele, sich nicht mehr an die Regeln zu halten. Na ja, schließlich ist es meine Seele, also passt das schon irgendwie.
Als mein Ba meinen Körper verließ, behielt er seine menschliche Gestalt, das war schon mal besser als diese geflügelte Truthahnaufmachung, allerdings wurde er immer größer und größer, bis er schließlich White Sands überragte. Man hatte mir oft gesagt, dass ich eine große Seele hätte (normalerweise war es nicht als Kompliment gemeint), aber das hier war absurd. Mein Ba war so groß wie das Washington Monument.
Im Süden, viele, viele Kilometer Wüste entfernt, stieg Dampf über dem Rio Grande auf – es war das Schlachtfeld, auf dem Bastet und Sobek draufgegangen waren. Trotz meiner Größe hätte ich doch eigentlich nicht bis nach Texas sehen können, vor allem nicht bei Nacht, doch ich konnte es. Im Norden, sogar noch weiter weg, erkannte ich in der Ferne ein rotes Leuchten und wusste, es war die Aura von Seth. Je näher die Vollendung seiner Pyramide rückte, umso größer wurde seine Macht.
Ich sah nach unten. Zu meinen Füßen waren ein paar kleine Flecken – unser Camp. Ein winziger Carter, Amos und Cheops saßen ums Lagerfeuer und redeten. Das Boot von Amos war nicht größer als mein kleiner Zeh. Mein schlafender Körper lag eingerollt in einer Decke, so klein, dass ich ihn mit einem falschen Schritt hätte zermalmen können.
Ich war riesengroß und die Welt war klein.
»So sieht die Welt für die Götter aus«, erklärte mir eine Stimme.
Ich schaute mich um, sah jedoch nichts als die endlose weite Fläche weißer Dünen. Plötzlich verschoben sich die Dünenkämme vor mir. Bis schließlich eine ganze Düne wie eine Welle zur Seite rollte, glaubte ich, es hätte mit dem Wind zu tun. Doch dann bewegte sich noch eine und noch eine. Mir wurde klar, dass ich auf eine menschliche Gestalt sah – einen riesigen Mann, der in Embryohaltung dalag. Er stand auf und schüttelte weißen Sand in alle Richtungen ab. Ich kniete mich hin und hielt schützend die Hände über meine Gefährten, damit sie nicht begraben wurden. Komischerweise bemerkten sie es nicht, es schien für sie bloß ein leichter Regenschauer zu sein.
Der Mann erhob sich zu voller Größe – er überragte meine Riesengestalt nochmals um einen Kopf. Sein Körper bestand aus Sand, der wie ein Wasserfall aus Zucker über seine Arme und seinen Oberkörper rieselte. Der Sand bewegte sich über sein Gesicht, bis er sich zu einem schwachen Lächeln formte.
»Sadie Kane«, begrüßte er mich. »Ich habe auf dich gewartet.«
»Hallo, Geb.« Frag mich nicht, wieso, aber ich wusste sofort, dass dies der Erdgott war. Vielleicht verriet ihn der Sandkörper. »Ich habe etwas für dich.«
Es war völlig unlogisch, dass mein Ba den Umschlag haben sollte, trotzdem griff ich in meine schimmernde, schemenhafte Hosentasche und zog die Nachricht von Nut hervor.
»Deine Frau vermisst dich«, sagte ich.
Vorsichtig nahm Geb die Nachricht entgegen. Er hielt sie vors Gesicht, wie um daran zu schnuppern. Schließlich öffnete er den Umschlag. Statt eines Briefs kam ein Feuerwerk heraus. Am Nachthimmel über uns leuchtete ein neues Sternbild – das Gesicht von Nut, aus Tausenden von Sternen geformt. Der Wind wurde schnell stürmischer und zerstörte das Bild, doch Geb seufzte zufrieden. Er schloss den Umschlag und steckte ihn in seine sandige Brust, als wäre genau an der Stelle, wo sein Herz sein sollte, eine Tasche.
»Ich schulde dir Dank, Sadie Kane«, sagte Geb. »Es ist Tausende von Jahren her, dass ich das Gesicht meiner Liebsten gesehen habe. Bitte mich um einen Gefallen, den die Erde gewähren kann, und ich werde ihn dir erweisen.«
»Rette meinen Vater«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
Über Gebs Gesicht lief eine Woge der Überraschung. »Hmm, was für eine treue Tochter. Isis könnte sich ein Beispiel an dir nehmen. Leider kann ich deinen Wunsch nicht erfüllen. Der Weg deines Vaters ist mit dem von Osiris verflochten und Angelegenheiten zwischen Göttern können nicht von der Erde gelöst werden.«
»Dann kannst du vermutlich auch Seths Berg nicht zum Einstürzen bringen und seine Pyramide zerstören?«, fragte ich.
Gebs Lachen war wie der größte Sandstreuer der Welt. »Ich kann nicht einfach so für eines meiner Kinder Partei ergreifen. Auch Seth ist mein Sohn.«
Am liebsten hätte ich vor
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