Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
größten Pflichten, war zu kapieren, dass meine eigenen Träume, meine eigenen Ziele und Wünsche im Vergleich zu denen meiner Kinder zweitrangig sind. Deine Mutter und ich haben den Weg bereitet. Aber es ist euer Weg. Diese Pyramide soll das Chaos schüren. Sie entzieht den anderen Göttern die Macht und macht Seth stärker.«
»Ich weiß. Wenn ich den Thron zerstöre, vielleicht den Sarg öffne …«
»Vielleicht kannst du mich retten«, räumte Dad ein. »Doch die Macht von Osiris, die Macht in mir, würde von der Pyramide vernichtet. Es würde die Zerstörung nur beschleunigen und Seth stärker machen. Die Pyramide muss zerstört werden, Stein für Stein. Und du weißt, was du dafür tun musst.«
Ich wollte schon protestieren, dass ich es nicht wusste, aber die Feder der Wahrheit sorgte dafür, dass ich ehrlich blieb. Der Weg war mir bekannt – ich hatte ihn in Isis’ Gedanken gesehen. Seit Anubis mir diese unmögliche Frage gestellt hatte, wusste ich, was kommen würde: »Würdest du deinen Vater opfern, um die Welt zu retten?«
»Ich will nicht«, sagte ich. »Bitte.«
»Osiris muss diesen Thron einnehmen«, antwortete mein Vater. »Durch Tod entsteht Leben. Es ist der einzige Weg. Möge Maat dich leiten, Sadie. Ich hab dich lieb.«
Damit löste sich sein Bild auf.
Jemand rief meinen Namen.
Ich drehte mich um und sah, wie Zia versuchte, sich aufzusetzen, und dabei kraftlos ihr Zaubermesser umklammerte. »Sadie, was machst du da?«
Um uns herum bebte der Raum. Risse durchzogen die Wände, als würde ein Riese die Pyramide als Boxsack benutzen.
Wie lange war ich in Trance gewesen? Da ich jedes Zeitgefühl verloren hatte, war ich mir nicht sicher.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Fast sofort sprach die Stimme von Isis: Begreifst du es jetzt? Verstehst du, warum ich nicht mehr sagen konnte?
Wut stieg in mir auf, doch ich unterdrückte sie. Darüber reden wir später. Im Moment müssen wir einen Gott besiegen.
Ich stellte mir vor, wie ich vortreten und meine Seele mit der der Göttin vereinen würde.
Ich hatte Isis schon früher Macht eingeräumt, aber das hier war anders. Meine Entschlossenheit, meine Wut, sogar meine Trauer gaben mir Zuversicht. Ich hielt Isis’ Blick stand (im übertragenen Sinn) und wir wussten, was die andere dachte.
Ich sah Isis’ ganze Geschichte – ihre Anfangszeit, als sie nach Macht strebte, als sie Tricks und Intrigen einsetzte, um Res Namen herauszufinden. Ich sah ihre Hochzeit mit Osiris, ihre Hoffnungen und Träume auf ein neues Reich. Dann sah ich, wie diese Träume durch Seth zerschmettert wurden. Ich fühlte ihre Wut und Bitterkeit, ihren blinden Stolz und wie sie ihren kleinen Sohn Horus zu beschützen versuchte. Und ich sah, wie sich das Muster ihres Lebens durch die Zeitalter immer und immer wiederholte, in tausend verschiedenen Gastkörpern.
Götter verfügen über große Macht, hatte Iskander erklärt, doch nur die Menschen sind schöpferisch und haben die Kraft, die Geschichte zu verändern.
Ich fühlte auch die Gedanken meiner Mutter, wie ein Abdruck legten sie sich auf die Erinnerungen der Göttin: Moms letzte Augenblicke und die Wahl, die sie getroffen hatte. Sie hatte ihr Leben gegeben, um eine Kette von Ereignissen auszulösen. Den nächsten Schritt musste ich tun.
»Sadie!«, rief Zia wieder, ihre Stimme wurde schwächer.
»Mir geht’s gut«, antwortete ich. »Ich mach mich jetzt auf den Weg.«
Zia musterte mein Gesicht und offensichtlich gefiel ihr nicht, was sie sah. »Dir geht es nicht gut. Du bist total durch den Wind. In deinem Zustand gegen Seth zu kämpfen wäre Selbstmord.«
»Mach dir keinen Kopf«, sagte ich. »Wir haben einen Plan.«
Mit diesen Worten verwandelte ich mich in einen Milan und flog den Luftschacht zur Spitze der Pyramide hinauf.
40.
Ich vermurkse einen ziemlich wichtigen Zauberspruch
Oben lief es nicht gut.
Carter hing als klägliches Häufchen Hühnerkrieger an der Seitenwand der Pyramide. Seth hatte soeben den Schlussstein aufgesetzt und rief: »Dreißig Sekunden bis Sonnenaufgang!« In der Höhle unter mir kämpften sich Magier des Lebenshauses durch ein Dämonenheer und fochten einen hoffnungslosen Kampf.
Das Bild wäre an sich schon furchterregend genug gewesen, doch jetzt sah ich es mit den Augen von Isis. Das heißt, ich sah ungefähr so, wie ein Krokodil sieht, dessen Augen auf Höhe des Wasserspiegels sind – ich konnte sowohl unter Wasser als auch über die Oberfläche sehen. Die Duat
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