Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
losgeheult hätte.
Er nahm meine Hand und führte mich zu dem leeren schwarzen Thron. »Wir haben völlig das Gleichgewicht verloren. Der Thron darf nicht leer sein. Die Wiedereinsetzung der Maat muss hier, in dieser Halle, anfangen.«
Er klang traurig, als würde er von mir verlangen, etwas Schreckliches zu akzeptieren. Ich verstand nicht, warum, aber mich überkam ein unermessliches Gefühl von Verlust.
»Es ist nicht fair«, sagte ich.
»Nein, ist es nicht.« Er drückte meine Hand. »Ich werde hier sein und warten. Es tut mir leid, Sadie. Es tut mir wirklich …«
Er fing an zu verblassen.
»Warte!« Ich versuchte, seine Hand festzuhalten, doch er löste sich ebenso wie der Friedhof zu Nebel auf.
Danach war ich wieder im Thronsaal der Götter, allerdings sah er aus, als wäre seit Jahrhunderten niemand mehr dort gewesen. Das Dach war eingestürzt, ebenso wie die Hälfte der Säulen. Die Kohlebecken waren kalt und verrostet. Der schöne Marmorboden war wie ein ausgetrocknetes Flussbett von Rissen durchzogen.
Bastet stand allein neben dem leeren Thron von Osiris. Sie lächelte mir verschmitzt zu, doch sie wiederzusehen war fast mehr, als ich ertragen konnte.
»Ach, sei nicht traurig«, sagte sie. »Katzen kennen kein Bedauern.«
»Aber bist du nicht … Bist du nicht tot?«
»Kommt darauf an.« Sie deutete um sich. »Die Duat ist in Aufruhr. Die Götter haben schon zu lange keinen König mehr. Wenn Seth es nicht übernimmt, muss es jemand anders tun. Der Feind ist im Anmarsch. Lass nicht zu, dass ich umsonst gestorben bin.«
»Aber wirst du zurückkommen?« Meine Stimme versagte. »Bitte, ich hab mich nicht mal von dir verabschieden können. Ich kann nicht –«
»Viel Glück, Sadie. Sorg dafür, dass deine Krallen scharf bleiben.« Bastet verschwand und erneut wechselte die Szenerie.
Ich stand in der Halle der Zeitalter, im Ersten Nomos – noch ein leerer Thron, und davor saß Iskander und wartete auf einen Pharao, den es seit zweitausend Jahren nicht mehr gab.
»Ein Anführer, meine Liebe«, sagte er. »Maat verlangt einen Anführer.«
»Es ist zu viel«, wandte ich ein. »Zu viele Throne. Du kannst nicht von Carter erwarten –«
»Nicht allein«, stimmte Iskander zu. »Aber dies ist die Last, die deine Familie zu tragen hat. Ihr habt alles ins Rollen gebracht. Nur die Kanes können uns gesund machen oder vernichten.«
»Ich hab keine Ahnung, was du meinst!«
Iskander öffnete die Hand und blitzschnell veränderte sich die Kulisse noch einmal.
Ich war wieder an der Themse. Es musste mitten in der Nacht sein, drei Uhr morgens, denn die Uferstraße am Embankment war menschenleer. Der Nebel hatte einen Schleier über die Stadt gelegt, die Luft war frostig.
Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, standen warm eingepackt vor Cleopatra’s Needle und hielten sich an der Hand. Zuerst hielt ich sie für irgendein Liebespaar. Dann stellte ich schockiert fest, dass ich meine Eltern betrachtete.
Dad hob das Gesicht und sah den Obelisken böse an. Im schwachen Licht der Straßenlampen wirkten seine Gesichtszüge wie aus Marmor gemeißelt – wie die Pharaonenstatuen, die er so gern betrachtete. Er hatte tatsächlich das Gesicht eines Königs, dachte ich – stolz und männlich.
»Bist du sicher?«, fragte er meine Mutter. »Absolut sicher?«
Mom strich sich das blonde Haar aus dem Gesicht. Sie war sogar noch schöner als auf den Bildern, wirkte aber besorgt – nachdenklich runzelte sie die Stirn und presste die Lippen aufeinander. Wie ich, wenn mich der Blick in den Spiegel fertigmachte und ich mir einzureden versuchte, dass es nicht so schlimm war. Ich wollte nach ihr rufen, sie wissen lassen, dass ich da war, aber ich bekam keinen Ton heraus.
»Sie hat mir erklärt, dass das der erste Schritt ist«, sagte meine Mutter. Als sie ihren schwarzen Mantel fester um sich wickelte, konnte ich kurz ihre Halskette erkennen – das Amulett von Isis, mein Amulett. Ich starrte es verblüfft an, doch dann zog sie den Kragen fester um sich und das Amulett war nicht mehr zu sehen. »Wenn wir den Feind besiegen wollen, müssen wir mit dem Obelisken anfangen. Wir müssen die Wahrheit herausfinden.«
Mein Vater schien sich unwohl zu fühlen. Er hatte einen Schutzkreis um sie gezeichnet – blaue Kreidelinien auf dem Pflaster. Als er den Fuß des Obelisken berührte, fing der Kreis zu leuchten an.
»Es gefällt mir nicht«, wandte er ein. »Willst du sie nicht um Hilfe bitten?«
»Nein«, beharrte meine
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