Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
Mutter. »Ich kenne meine Grenzen, Julius. Wenn ich es noch mal versuchen würde …«
Mein Herz setzte aus. Mir fielen Iskanders Worte wieder ein: Sie sah Dinge, die sie veranlassten, Rat an ungewöhnlichen Stellen zu suchen. Ich erkannte den Blick in den Augen meiner Mutter und wusste Bescheid: Sie hatte mit Isis Zwiesprache gehalten.
Warum hast du mir nichts davon gesagt?, hätte ich am liebsten geschrien.
Mein Vater rief seinen Zauberstab und sein Zaubermesser herbei. »Ruby, wenn wir es nicht schaffen –«
»Wir müssen es schaffen«, sagte sie. »Das Wohl der Welt hängt davon ab.«
Sie küssten sich ein letztes Mal, als wüssten sie, dass sie Abschied voneinander nahmen. Dann hielten sie ihre Zauberstäbe und -messer in die Höhe und stimmten ihren Sprechgesang an. Cleopatra’s Needle glühte vor Energie.
Ich riss meine Hand von dem Sarkophag weg. Mir standen Tränen in den Augen.
Du hast meine Mutter gekannt, brüllte ich Isis an. Du hast sie ermutigt, diesen Obelisken zu öffnen. Du hast sie umgebracht!
Ich wartete auf ihre Antwort. Stattdessen erschien ein geisterhaftes Bild vor mir – eine Projektion meines Vaters, die im Licht des goldenen Sargs schimmerte.
»Sadie.« Er lächelte. Seine Stimme klang blechern und hohl, so hatte sie immer geklungen, wenn er mich von weit weg anrief – aus Ägypten oder Australien oder Gott weiß woher. »Gib Isis nicht die Schuld am Schicksal deiner Mutter. Keiner von uns wusste wirklich, was passieren würde. Selbst deine Mutter konnte nur winzige Ausschnitte der Zukunft sehen. Doch als die Zeit reif war, akzeptierte deine Mutter ihre Rolle. Sie allein hat die Entscheidung getroffen.«
»Zu sterben?«, wollte ich wissen. »Isis hätte ihr helfen sollen. Du hättest ihr helfen sollen. Ich hasse dich!«
Sobald ich das ausgesprochen hatte, löste sich etwas in mir. Ich brach in Tränen aus. Ich merkte, dass ich das meinem Vater seit Jahren hatte sagen wollen. Ich gab ihm die Schuld an Moms Tod, gab ihm die Schuld daran, dass er mich im Stich gelassen hatte. Aber jetzt, wo ich es ausgesprochen hatte, wich die ganze Wut aus mir, zurück blieben nur Schuldgefühle.
»Es tut mir leid«, stammelte ich. »Ich wollte nicht –«
»Entschuldige dich nicht, mein tapferes Mädchen. Du hast jedes Recht, so zu fühlen. Du musstest es rauslassen. Was vor dir liegt – du musst daran glauben, dass es das Richtige ist, du darfst es nicht tun, weil du wütend auf mich bist.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Er streckte die Hand aus, um mir eine Träne von der Wange zu wischen, aber seine Hand war bloß ein Lichtschimmer. »Deine Mutter war seit Jahrhunderten die Erste, die mit Isis Zwiesprache gehalten hat. Es war gefährlich, es verstieß gegen die Lehre des Lebenshauses, aber deine Mutter war eine Wahrsagerin. Sie hatte eine Vorahnung, dass das Chaos zunahm. Das Haus war zu schwach. Wir brauchten die Götter. Isis konnte die Duat nicht verlassen. Sie brachte kaum ein Flüstern zu Stande, doch sie erzählte uns, so viel sie konnte, über die Gefangenschaft der Götter. Sie gab Ruby Ratschläge, was zu tun war. Sie sagte, dass die Götter wieder Einfluss gewinnen könnten, doch es würde viele große Opfer verlangen. Wir dachten, der Obelisk würde alle Götter freisetzen, aber es war erst der Anfang.«
»Isis hätte Mom mehr Macht geben können. Oder wenigstens Bastet! Bastet hat angeboten –«
»Nein, Sadie. Deine Mutter kannte ihre Grenzen. Hätte sie versucht, eine Gottheit zu beherbergen und die göttliche Macht voll einzusetzen, wäre sie vernichtet worden oder noch schlimmer. Sie hat Bastet befreit und ihre eigene Kraft eingesetzt, damit es keinen Weg mehr zurück gab. Sie hat dir mit ihrem Leben ein bisschen Zeit erkauft.«
»Mir? Aber …«
»Du und dein Bruder verfügt über die stärksten magischen Fähigkeiten aller Kanes seit dreitausend Jahren. Deine Mutter hat die Stammbäume der Pharaonen erforscht – sie war sicher, dass es so war. Ihr habt die besten Chancen, die alten Formen der Magie wieder zu erlernen und den Zwist zwischen Magiern und Göttern auszuräumen. Deine Mutter hat den Anstoß gegeben. Ich habe die Götter aus dem Rosettastein befreit. Die Wiederherstellung der Maat wird jedoch deine Aufgabe sein.«
»Du kannst mir helfen«, beharrte ich. »Sobald wir dich befreit haben.«
»Sadie«, sagte er hilflos, »wenn du mal Kinder hast, verstehst du mich vielleicht. Eine meiner härtesten Herausforderungen als Vater, eine meiner
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