Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
knackten und zerbröckelten unter dem Gewicht ihrer Göttergestalten. Rings um den Fuß der Pyramide standen die Dämonen und Magier auf, die durch das Portal mitgezogen und vorübergehend bewusstlos geworden waren.
Das Buch, Sadie … Manchmal ist es ganz praktisch, wenn man noch jemanden im Kopf hat, der einem einen Klaps geben kann. Ach ja, das Buch!
Ich streckte die Hand aus und rief den kleinen blauen Band herbei, den wir in Paris gestohlen hatten: Das Buch vom Sieg über Seth . Ich entfaltete den Papyrus; die Hieroglyphen kamen mir so logisch vor wie eine Grundschulfibel. Ich rief nach der Feder der Wahrheit, die sofort erschien und über den Seiten leuchtete.
Als ich die ersten Worte des Zauberspruchs aufsagte, die Göttlichen Worte sprach, erhob sich mein Körper in die Luft und schwebte ein paar Zentimeter über der Pyramide. Ich stimmte einen Sprechgesang über die Schöpfung an: Ich sang vom Aufstieg des ersten Berges aus den Fluten des Chaos, von der Geburt der Gottheiten Re, Geb und Nut, dem Stärkerwerden Maats und dem ersten großen Reich der Menschheit, Ägypten.
Als die Hieroglyphen auf den Seitenwänden des Washington Monument erschienen, begann es zu leuchten. Der Schlussstein schimmerte silbern.
Seth versuchte, nach mir zu schlagen, doch Carter stellte sich ihm in den Weg. Die rote Pyramide fing an auseinanderzubrechen.
Ich dachte an Amos und Zia, die im Inneren unter Tonnen von Stein gefangen waren, und fast hätte ich einen Rückzieher gemacht, doch in meinen Gedanken sprach die Stimme meiner Mutter: Nicht nachlassen, mein Liebes. Behalte den Feind im Auge.
Ja, stimmte Isis zu. Vernichte ihn!
Doch aus irgendeinem Grund wusste ich, dass meine Mutter nicht das damit meinte. Sie riet mir, die Augen offen zu halten. Etwas Entscheidendes würde passieren.
Durch die Duat sah ich, wie sich etwas Magisches um mich herum entwickelte, ein weißer Schimmer legte sich über die Welt, setzte Maat wieder ein und vertrieb das Chaos. Während Carter und Seth aufeinander einhieben, stürzten große Teile der Pyramide zusammen.
Die Feder der Wahrheit leuchtete und strahlte den roten Gott wie ein Scheinwerfer an. Als ich zum Ende des Zauberspruchs kam, fingen meine Worte an, Seths Gestalt in Stücke zu reißen.
In der Duat wurde sein glutroter Wirbelwind hinweggefegt und darunter kam ein schwarzhäutiges, schleimiges Ding zum Vorschein, das wie ein abgemagertes Seth-Tier aussah – die bösartige Quintessenz des Gottes. In der sterblichen Welt stand jedoch an der gleichen Stelle ein stolzer Krieger in roter Rüstung, der vor Kraft sprühte und entschlossen war, bis zum Tod zu kämpfen.
»Ich gebe dir den Namen Seth«, sang ich. »Ich nenne dich Böser Tag.«
Mit einem Donnergrollen stürzte die Pyramide ein. Seth wurde unter Trümmern begraben. Er versuchte aufzustehen, aber Carter schwang sein Schwert. Seth hatte kaum Zeit, seinen Zauberstab zu heben. Die Waffen der beiden klirrten gegeneinander und Horus zwang Seth langsam in die Knie.
»Jetzt, Sadie!«, schrie Carter.
»Du bist mein Feind gewesen«, sang ich, »und ein Fluch für das Land.«
Ein Strahl Weißlicht zischte am Washington Monument herunter. Er verbreiterte sich zu einem Spalt – zu einer Tür zwischen dieser Welt und dem strahlend weißen Abgrund, der Seth einsperren und seine Lebenskraft gefangen halten würde. Vielleicht nicht für immer, aber doch für lange, lange Zeit.
Um den Zauberspruch zu vollenden, musste ich bloß noch eine Zeile sprechen: »Als Feind der Maat verdienst du keine Gnade und musst in der Verbannung unter der Erde leben.«
Die Zeile musste mit absoluter Überzeugung gesprochen werden. Das verlangte die Feder der Wahrheit. Und warum sollte ich nicht daran glauben? Es war die Wahrheit. Seth verdiente keine Gnade. Er war ein Feind von Maat.
Doch ich zögerte.
Behalt den Feind im Auge , hatte mir meine Mutter geraten.
Ich blickte zur Spitze des Monuments. In der Duat sah ich Brocken der Pyramide, die gen Himmel flogen, und die Seelen der Dämonen, die wie Feuerwerk explodierten. Als sich Seths Chaosmagie auflöste, wurde die geballte Kraft, die sich aufgestaut hatte und nur darauf wartete, den Kontinent zu zerstören, von den Wolken aufgesaugt. Vor meinen Augen versuchte das Chaos, eine Gestalt anzunehmen. Es sah wie eine rote Widerspiegelung des Potomac River aus – ein gewaltiger blutroter Fluss, der mindestens anderthalb Kilometer lang und hundert Meter breit war. Er wand sich in der Luft, wollte
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