Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
sich in Materie verwandeln, ich spürte die Wut des Flusses und seine Verbitterung. Das hatte er sich anders vorgestellt. Für seine Zwecke gab es nicht genug Kraft oder Chaos. Um sich richtig ausbilden zu können, war der Tod von Millionen nötig, die Verwüstung eines ganzen Kontinents.
Das war kein Fluss. Das war eine Schlange.
»Sadie!«, schrie Carter. »Worauf wartest du noch?«
Seth lag auf den Knien, wand sich und fluchte, während weiße Energie ihn umkreiste und in Richtung des Spalts zog. »Kriegst du kalte Füße, du Hexe?«, grölte er. Anschließend starrte er Carter böse an. »Siehst du, Horus? Isis kneift immer. Nichts bringt sie je zu Ende!«
Carter warf mir einen Blick zu und einen Moment lang sah ich den Zweifel auf seinem Gesicht. Horus würde ihn zu blutiger Rache anstacheln. Ich zögerte. Das hatte Isis und Horus schon früher entzweit. Ich konnte nicht zulassen, dass es jetzt wieder passierte.
Außerdem erinnerte mich Carters müder Gesichtsausdruck daran, wie er mich an Besuchstagen angeschaut hatte – als wir quasi Fremde waren und gezwungenermaßen unsere Zeit miteinander verbrachten. Als wir so tun mussten, als wären wir eine glückliche Familie, weil Dad es von uns erwartete. Zu diesem Zustand wollte ich nicht mehr zurückkehren. Ich wollte kein Theater mehr spielen. Wir waren eine Familie und wir mussten uns zusammentun.
»Carter, schau nach oben.« Ich warf die Feder der Wahrheit in den Himmel und brach den Zauber.
»Nein!«, schrie Carter.
Doch die Feder explodierte zu Silberstaub, der sich an die Schlangengestalt heftete und sie für einen kurzen Augenblick sichtbar machte.
Als Carter die Schlange sah, die sich in der Luft über Washington wand und langsam an Kraft verlor, klappte ihm die Kinnlade runter.
Neben mir kreischte eine Stimme: »Elende Götter!«
Ich drehte mich um und erkannte Seths Lakaien, Horrorgesicht, der die Reißzähne fletschte. Sein groteskes Gesicht war nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt und er hielt ein scharfkantiges Messer über meinen Kopf. Ich konnte bloß noch denken: Das war’s, da sah ich aus dem Augenwinkel auch schon Metall aufblitzen. Es gab einen grässlichen dumpfen Aufprall und der Dämon erstarrte.
Carter hatte sein Schwert mit tödlicher Treffsicherheit geworfen. Der Dämon ließ sein Messer fallen, ging in die Knie und starrte auf die Klinge, die ihm in der Seite steckte.
Als er umkippte, stieß er ein wütendes Zischen aus. Seine schwarzen Augen starrten mich an und er redete mit völlig veränderter Stimme – es war ein scharrendes, trockenes Geräusch, als würde der Bauch eines Reptils über Sand scheuern. »Es ist noch nicht vorbei, Gottling. Das habe ich ohne große Mühe geschafft, mit einem winzigen Stück meines Wesens, es windet sich aus meinem Käfig heraus, der immer schwächer wird. Stell dir vor, was ich tun werde, wenn ich vollständig Gestalt annehme.«
Er schenkte mir ein grauenvolles Lächeln, dann erschlaffte sein Gesicht. Aus seinem Mund schlängelte sich eine dünne Linie, roter Nebel – wie ein Wurm oder eine frisch geschlüpfte Schlange –, und wand sich zum Himmel, um sich mit der Quelle zu vereinigen. Der Körper des Dämons zerfiel zu Sand.
Ich sah noch einmal zu der riesigen roten Schlange hinauf, die sich am Himmel langsam aufzulösen begann. Dann rief ich einen richtig starken Wind herbei und sie wurde endgültig davongefegt.
Das Washington Monument hörte zu leuchten auf. Der Spalt schloss sich, das kleine Buch mit den Zauberformeln verschwand aus meiner Hand.
Ich ging auf Seth zu, der noch immer von Seilen aus weißer Energie gefangen war. Ich hatte seinen wirklichen Namen ausgesprochen. Fürs Erste würde er sich nicht vom Fleck rühren.
»Ihr beiden habt die Schlange in den Wolken gesehen«, sagte ich. »Apophis.«
Carter nickte fassungslos. »Er hat versucht, in die sterbliche Welt einzudringen, und wollte die rote Pyramide als Eingang benutzen. Wäre ihre Kraft freigesetzt worden …« Er sah angewidert auf den Sandhaufen, der einmal ein Dämon gewesen war. »Apophis hatte die ganze Zeit von Horrorgesicht – Seths rechter Hand – Besitz ergriffen. Er hat Seth benutzt, um sein Ziel zu erreichen!«
»Lächerlich!« Seth sah mich grimmig an und zerrte an seinen Fesseln. »Die Schlange in den Wolken war einer deiner Tricks, Isis. Ein Trugbild.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt«, widersprach ich. »Ich hätte dich in den Abgrund schicken können, Seth, aber du hast den
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