Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
schlich mich auf dem Weg, den wir gekommen waren, durch die Stadt, aber bis auf die eine oder andere Kobra, die über das Pflaster glitt, war nichts zu sehen. Nach den letzten Tagen brachte mich nicht mal mehr das aus der Fassung. Ich überlegte, ob ich Carter suchen sollte, aber ich wusste nicht genau, wo sie ihn hingebracht hatten, und ehrlich gesagt wollte ich bei meinem Vorhaben lieber allein sein.
Nach unserem Streit in New York war ich mir über die Gefühle zu meinem Bruder nicht mehr sicher. Die Vorstellung, dass er auf mein Leben eifersüchtig sein könnte, wo er doch mit Dad um die Welt gereist war – echt, Mann! Und dann behauptete er auch noch allen Ernstes, mein Leben wäre normal gewesen? Klar, ich hatte ein paar Schulfreundinnen wie Liz und Emma, aber mein Leben war alles andere als einfach. Wenn Carter sich irgendwo danebenbenahm oder Leute kennenlernte, die ihm nicht passten, konnte er einfach woanders hingehen! Ich musste bleiben, wo ich war. Auf Fragen wie »Wo sind eigentlich deine Eltern?« oder »Was macht deine Familie so?« oder »Wo kommst du her?« konnte ich nicht antworten, ohne preiszugeben, wie verworren unser Leben war. Ich war immer das Mädchen, das anders war. Ich war die Tochter einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters, die Amerikanerin, die keine Amerikanerin war, das Mädchen, dessen Mutter gestorben war, das Mädchen mit dem abwesenden Vater, das Mädchen, das den Unterricht störte, das Mädchen, das sich nicht auf den Stoff konzentrieren konnte. Mit der Zeit kapiert man, dass man nie dazugehören wird. Wenn Leute mir schon das Gefühl gaben, eine Außenseiterin zu sein, konnte ich ihnen genauso gut was zum Angaffen bieten. Rote Strähnchen im Haar? Warum nicht! Springerstiefel zur Schuluniform? Logo. Wenn der Direktor drohte: »Ich werde deine Eltern anrufen müssen, junge Dame«, antwortete ich bloß: »Nur zu.« Carter hatte keinen blassen Schimmer von meinem Leben.
Doch genug davon. Ich hatte beschlossen, diese eine Sache allein herauszufinden, und nachdem ich ein paarmal falsch abgebogen war, fand ich schließlich den Weg zum Gang der Zeitalter wieder.
Ihr fragt euch, was ich vorhatte? Garantiert nicht, Monsieur Fiesling oder den gruseligen alten Lord Salamander wiederzutreffen.
Ich wollte unbedingt die Bilder sehen – Erinnerungen hatte Zia sie genannt.
Ich stieß die Bronzetüren auf. Der Gang schien verlassen. An der Decke schwebten keine Feuerbälle. Keine leuchtenden Hieroglyphen. Doch zwischen den Säulen schimmerten immer noch Bilder und tauchten alles in ein seltsames, mehrfarbiges Licht.
Nervös lief ich ein paar Schritte weiter.
Ich wollte mir das Zeitalter der Götter noch einmal ansehen. Etwas an den Bildern hatte mich bei unserer ersten Tour durch den Gang aufgerüttelt. Ich weiß, dass Carter glaubte, ich wäre in eine gefährliche Trance gefallen, und Zia hatte mich davor gewarnt, dass die Bilder mein Hirn aufweichen würden; trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie mir bloß Angst machen wollte. Ich spürte eine Verbindung zu jenen Bildern, sie schienen eine Antwort bereitzuhalten – eine wesentliche Information, die ich brauchte.
Ich verließ den Teppich und näherte mich dem Vorhang aus goldenem Licht. Der Wind verschob die Sanddünen, Sturmwolken brauten sich zusammen, Krokodile glitten den Nil hinunter. Ich sah einen riesigen Saal, in dem gefeiert wurde. Ich berührte das Bild.
Ich war im Palast der Götter.
Große Geschöpfe wirbelten um mich herum, ihre Form veränderte sich ständig: von Mensch zu Tier zu reiner Energie. In der Mitte des Raums saß auf einem Thron ein muskulöser Afrikaner in prächtigen schwarzen Gewändern. Er hatte ein schönes Gesicht und warme braune Augen. Seine Hände sahen stark genug aus, um Felsen zu zermalmen.
Rings um ihn feierten die anderen Götter. Musik spielte – der Klang war so kraftvoll, dass die Luft brannte. Neben dem Mann stand eine schöne Frau in Weiß, ihr Bauch wölbte sich, als sei sie hochschwanger. Ihr Umriss flackerte; von Zeit zu Zeit sah es aus, als hätte sie mehrfarbige Flügel. Sie drehte sich in meine Richtung und ich musste nach Luft schnappen. Sie hatte das Gesicht meiner Mutter.
Sie schien mich nicht zu bemerken, genau wie die anderen Götter, doch schließlich fragte eine Stimme hinter mir: »Bist du ein Geist?«
Ich drehte mich um und sah einen gut aussehenden Jungen, der um die sechzehn sein mochte und schwarze Gewänder trug. Seine Haut war blass, doch
Weitere Kostenlose Bücher