Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
marschieren. Die Briten bauten den Suezkanal. Langsam entwickelte sich Kairo zu einer modernen Stadt. Und die alten Ruinen verschwanden tiefer und tiefer unter dem Wüstensand.
»Jedes Jahr«, erklärte Zia, »wird der Gang der Zeitalter, der unsere Geschichte birgt, ein Stück länger. Bis zum heutigen Tag.«
Ich war völlig benommen. Erst als Sadie mich am Arm packte, wurde mir bewusst, dass wir das Ende des Gangs erreicht hatten.
Vor uns stand ein Podium mit einem leeren Thron, einem vergoldeten Holzstuhl, in dessen Rückenlehne eine Geißel und ein Krummstab geschnitzt waren – die alten Insignien der Pharaonen.
Auf der Stufe unterhalb des Throns saß der älteste Mann, den ich je gesehen hatte. Seine Haut ähnelte einer Papiertüte – braun, dünn und zerknittert. Weiße Leinengewänder schlotterten um seinen schmächtigen Körper. Um seine Schultern war ein Leopardenfell drapiert, in der Hand hielt er einen großen hölzernen Zauberstab, den er bestimmt gleich fallen lassen würde. Das Allermerkwürdigste war jedoch, dass die leuchtenden Hieroglyphen in der Luft von ihm auszugehen schienen. Rings um ihn stiegen mehrfarbige Symbole auf und schwebten davon, als wäre er eine Art magische Blasenmaschine.
Zuerst war ich nicht mal sicher, ob er lebte. Seine milchigen Augen starrten ins Leere. Doch dann nahm er mich ins Visier und durch meinen Körper pulste elektrische Energie.
Er sah mich nicht nur an. Er durchleuchtete mich – entzifferte mein innerstes Wesen.
Versteck dich , sagte etwas in mir.
Ich wusste nicht, woher die Stimme kam, aber mein Magen krampfte sich zusammen. Mein ganzer Körper spannte sich an, als würde ich mich auf einen Schlag vorbereiten. Das elektrisierende Gefühl ließ nach.
Der alte Mann zog eine Augenbraue hoch, als hätte ich ihn überrascht. Er blickte hinter sich und sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand.
Aus den Schatten trat ein zweiter Mann. Ich unterdrückte einen Aufschrei. Es war der Typ, der mit Zia im British Museum gewesen war – der Mann in den cremefarbenen Gewändern, der mit dem Gabelbart.
Der Bärtige funkelte Sadie und mich böse an.
»Ich heiße Desjardins«, stellte er sich mit französischem Akzent vor. »Mein Herr, der Oberste Vorlesepriester Iskander, heißt euch im Lebenshaus willkommen.«
Mir fiel keine Antwort ein, stattdessen stellte ich eine dumme Frage. »Er ist wirklich alt. Warum sitzt er nicht auf dem Thron?«
Desjardins’ Nasenlöcher blähten sich auf, doch der alte Typ, Iskander, kicherte bloß und machte eine Bemerkung in einer anderen Sprache.
Desjardins übersetzte steif: »Der Herr dankt dir für deine Beobachtung; er ist in der Tat sehr alt. Doch der Thron gebührt dem Pharao. Er wurde seit der Eroberung Ägyptens durch Rom nicht mehr besetzt. Er ist … comment dit-on? Ein Symbol. Die Aufgabe des Obersten Vorlesepriesters ist es, dem Pharao zu dienen und ihn zu schützen. Deshalb sitzt er am Fuß des Throns.«
Ich sah Iskander etwas nervös an und fragte mich, seit wie vielen Jahren er auf dieser Stufe saß. »Falls Sie … falls er Englisch versteht … welche Sprache spricht er überhaupt?«
Desjardins rümpfte die Nase. »Der Oberste Vorlesepriester versteht viele Dinge. Bevorzugt spricht er jedoch das Griechisch aus der Zeit Alexanders des Großen, die Sprache, mit der er groß geworden ist.«
Sadie räusperte sich. »Entschuldigung, die Sprache, mit der er groß geworden ist? War Alexander der Große nicht ganz hinten im blauen Abschnitt, vor Tausenden von Jahren? Bei Ihnen klingt das, als ob Lord Salamander –«
»Lord Iskander «, zischte Desjardins. »Ein bisschen mehr Respekt, bitte!«
In meinem Kopf klickte etwas: Damals in Brooklyn hatte Amos etwas von dem Verbot der Magier erzählt, Götter herbeizurufen – es war ein Gesetz, das in der römischen Zeit vom Obersten Vorlesepriester erlassen worden war … Iskander. Bestimmt war damit ein anderer Typ gemeint. Vielleicht redeten wir mit Iskander XXVII. oder so.
Der alte Mann begegnete meinem Blick. Er lächelte, als wüsste er genau, was in meinem Kopf vor sich ging. Er fügte noch etwas auf Griechisch hinzu und Desjardins übersetzte.
»Der Herr sagt, ihr sollt euch keine Sorgen machen. Man wird euch nicht für die Verbrechen belangen, die eure Familie in der Vergangenheit begangen hat. Zumindest nicht, bis wir euch weiter überprüft haben.«
»Oh … danke«, sagte ich.
»Mach dich nicht über unsere Großzügigkeit lustig,
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