Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
er hatte dieselben schönen braunen Augen wie der Mann auf dem Thron. Sein schwarzes Haar war lang und wirr – ziemlich wild, aber das gefiel mir. Als er den Kopf zur Seite legte, merkte ich, dass er mir eine Frage gestellt hatte.
Ich überlegte, was ich antworten sollte. Entschuldigung? Hallo? Willst du mich heiraten? Es war eigentlich egal. Ich brachte bloß ein Kopfschütteln zu Stande.
»Du bist doch kein Geist, oder?«, fragte er nachdenklich. »Dann vielleicht ein Ba?« Er deutete auf den Thron. »Schau zu, aber halt dich raus.«
Irgendwie hatte ich kein übermäßiges Interesse an dem Thron, aber da löste sich der Junge in Schwarz zu einem Schatten auf und verschwand. Nun lenkte mich nichts mehr ab.
»Isis«, sagte der Mann auf dem Thron.
Die schwangere Frau drehte sich zu ihm und er strahlte. »Mein Gebieter Osiris. Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie.
»Ich danke dir, meine Liebste. Bald steht die Geburt unseres Sohnes bevor – Horus des Großen! Seine neue Inkarnation wird so mächtig sein wie nie zuvor. Er wird der Welt Frieden und Wohlstand bringen.«
Isis ergriff die Hand ihres Gatten. Um sie herum spielte weiter Musik, die Götter feierten, die Luft selbst vibrierte in einem Schöpfungstanz.
Plötzlich flogen die Palasttüren auf. Ein heißer Wind ließ die Fackeln flackern.
Ein Mann stürmte in den Saal. Er war groß und kräftig und hätte fast ein Zwilling von Osiris sein können, allerdings hatte er dunkelrote Haut und trug blutfarbene Gewänder und einen Spitzbart. Solange er nicht lächelte und seine Zähne sich nicht in Reißzähne verwandelten, sah er aus wie ein Mensch. Sein Gesicht veränderte sich ständig – manchmal war es menschlich, manchmal seltsam wolfsähnlich. Ich musste mich zusammennehmen, um nicht aufzuschreien. Dieses Wolfsgesicht hatte ich schon einmal gesehen.
Das Tanzen hörte auf. Die Musik verstummte.
Osiris erhob sich von seinem Thron. »Seth«, sagte er in drohendem Ton. »Was willst du hier?«
Als Seth loslachte, ließ die Anspannung im Raum nach. Trotz seiner grausamen Augen hatte er ein wundervolles Lachen – es hatte nichts mit seinem Kreischen im British Museum zu tun. Es klang so unbekümmert und freundlich, als könne er niemandem ein Haar krümmen.
»Natürlich will ich den Geburtstag meines Bruders feiern!«, rief er. »Und ich habe was zur Unterhaltung mitgebracht!«
Er deutete hinter sich. Vier riesige Männer mit Wolfsköpfen marschierten in den Saal, sie trugen einen juwelenbesetzten goldenen Sarg.
Mein Herz begann zu rasen. Es war dieselbe Kiste, die Seth im British Museum verwendet hatte, um meinen Vater einzusperren.
Nein!, wollte ich schreien. Ihr dürft ihm nicht trauen!
Doch die versammelten Götter schrien Oh! und Ah! und bewunderten die Kiste, die mit goldenen und roten Hieroglyphen bemalt und mit Jade und Opalen verziert war. Als die Wolfsmänner die Kiste absetzten, fiel mir auf, dass sie keinen Deckel hatte. Das Innere war mit schwarzem Leinen ausgelegt.
»Dieser Schlafsarg«, kündigte Seth an, »wurde von meinen besten Kunsthandwerkern aus den teuersten Materialien gefertigt. Sein Wert ist unschätzbar. Die Macht des Gottes, der sich hineinlegt, selbst wenn es nur für eine Nacht ist, verzehnfacht sich! Seine Weisheit wird ihn nie im Stich lassen. Seine Kraft nie versagen. Der Sarg ist ein Geschenk« – er sah Osiris listig an – »an denjenigen Gott – und nur an den –, der perfekt hineinpasst!«
Ich hätte mich ja nicht als Erste angestellt, aber die Götter drängten nach vorn. Sie stießen einander beiseite, um zu dem goldenen Sarg zu gelangen. Einige kletterten hinein, waren jedoch nicht groß genug. Andere waren viel zu dick. Selbst wenn sie versuchten, ihre Gestalt zu ändern, waren die Götter erfolglos, auf der Kiste schien ein Zauber zu liegen, der es vereitelte. Keiner von ihnen passte genau hinein. Die Götter murrten und beschwerten sich, als andere ungeduldig drängelten und sie zu Boden stießen.
Seth wandte sich mit einem gutmütigen Lachen an Osiris. »Na, Bruder, wir haben noch keinen Gewinner. Willst du es versuchen? Nur dem besten der Götter ist Erfolg beschieden.«
Osiris’ Augen glänzten. Er war offensichtlich nicht der Gott der Schlauheit, denn er schien hin und weg von der Schönheit der Kiste. Alle anderen Götter betrachteten ihn erwartungsvoll und ich konnte sehen, was er dachte: Wenn er in die Kiste passte, was für ein geniales Geburtstagsgeschenk! Selbst Seth, sein gerissener
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