Die Kane-Chroniken – Der Feuerthron
andere Realitätsebene betreten hatten, wie der Kai aus, der sich an der Themse unterhalb von Grans und Gramps’ Wohnung entlangzog.
»Wie fies«, sagte Sadie.
Ich verstand, was sie meinte. Es war hart für sie, nach ihrem katastrophalen Geburtstagsausflug wieder in London zu sein. Außerdem waren wir letztes Weihnachten von dort zum ersten Mal nach Brooklyn gereist. Wir waren mit Amos genau diese Stufen zum Kai hinuntergestiegen und an Bord seines magischen Bootes gegangen. Damals war ich traurig gewesen, weil ich meinen Vater verloren hatte; schockiert, dass Gran und Gramps uns einem Onkel überließen, an den ich mich nicht mal erinnern konnte; und voller Angst, ins Ungewisse zu segeln. All diese Gefühle kamen nun wieder hoch, genauso scharf und schmerzhaft wie zuvor.
Über dem Fluss hing ein Dunstschleier. Es gab keine Laternen, nur ein unheimliches Leuchten am Himmel. Die Silhouette von London wirkte fließend, in Bewegung – Gebäude erhoben sich und lösten sich auf, als fänden sie kein gemütliches Plätzchen, um sich niederzulassen. Unter uns trieb der Nebel von den Kaimauern weg.
»Sadie«, sagte ich. »Schau mal.«
Am Fuße der Stufen lag ein Boot vertäut, allerdings nicht das von Amos. Es war die Barke des Sonnengottes, genau so, wie ich sie in meiner Vision gesehen hatte – ein einst majestätisches Schiff mit Deckhaus und Plätzen für zwanzig Ruderer, allerdings kaum noch seetüchtig. Das Segel hing in Fetzen, die Ruder waren zerbrochen, die Takelage voller Spinnweben.
Auf halber Treppe versperrten Gran und Gramps uns den Weg.
»Die schon wieder«, knurrte Sadie. »Los, weiter.«
Sie lief die Treppe unbeirrt hinunter, bis wir schließlich den leuchtenden Abbildern unserer Großeltern gegenüberstanden.
»Haut ab«, befahl Sadie.
»Mein Liebes.« Grans Augen glitzerten feucht. »Redet man so mit seiner Großmutter?«
»Oh, Entschuldigung«, sagte Sadie. »Das ist wohl der Teil, wo Rotkäppchen fragen sollte: ›Großmutter, warum hast du so große Zähne?‹ Du bist nicht meine Großmutter, Nechbet. So, und jetzt geh uns aus dem Weg!«
Das Bild von Gran schimmerte. Ihr geblümter Morgenrock verwandelte sich in einen Umhang aus schmierigen schwarzen Federn. Ihr Gesicht schrumpelte zu einer schlaffen faltigen Maske zusammen, ein Großteil ihrer Haare fiel aus, was sie auf der Hässlichkeitsskala sofort auf 9,5 hochschnellen ließ, auf eine Stufe mit Bes.
»Bitte ein bisschen mehr Respekt, Liebes«, flötete die Göttin. »Wir sind nur hier, um euch freundlich zu warnen. Ihr habt fast den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt. Wenn ihr diese Barke besteigt, könnt ihr nicht mehr umdrehen – und nicht mehr anhalten, bevor ihr nicht alle Zwölf Häuser der Nacht passiert habt oder gestorben seid.«
Gramps bellte: »Aghh!«
Er kratzte sich die Achselhöhlen, was bedeuten konnte, dass der Paviangott Babi von ihm Besitz ergriffen hatte – oder auch nicht, denn dieses Verhalten war für Gramps gar nicht so ungewöhnlich.
»Hör auf Babi«, drängte Nechbet. »Du hast keine Vorstellung, was euch auf dem Fluss erwartet. Mädchen, du warst schon in London kaum in der Lage, uns abzuwehren. Die Armeen des Chaos sind noch sehr viel schlimmer!«
»Aber diesmal ist sie nicht allein.« Ich ging mit Krummstab und Geißel auf Nechbet zu. »Und jetzt verschwindet.«
Gramps knurrte und wich zurück.
Nechbets Augen wurden schmal. »Du beanspruchst die Waffen des Pharaos?« In ihrem Tonfall schwang widerwillige Bewunderung mit. »Du traust dich was, Kind, aber das wird euch auch nicht retten.«
»Du kapierst es nicht«, sagte ich. »Wir retten auch euch . Wir retten uns alle vor Apophis. Wenn wir mit Re zurückkommen, werdet ihr uns helfen. Ihr werdet unseren Befehlen folgen und die anderen Götter überzeugen, eurem Beispiel zu folgen.«
»Lächerlich«, zischte Nechbet.
Ich hob den Krummstab und fühlte, wie mich Macht durchströmte – die Macht eines Königs. Der Krummstab war das Arbeitswerkzeug eines Schäfers. Ein König leitet sein Volk wie ein Schäfer seine Herde. Ich setzte meinen Willen durch und die zwei Götter fielen auf die Knie.
Als sich die Bilder von Nechbet und Gramps auflösten, wurden die wahren Gestalten der Götter sichtbar. Nechbet war plötzlich ein riesiger Geier mit einer goldenen Krone auf dem Kopf und kunstvoll gearbeiteten Juwelen um den Hals. Ihre Schwingen waren noch immer schwarz und fettig, doch sie glänzten, als hätte sie sich in Goldstaub
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