Die Kane-Chroniken – Der Feuerthron
gesehen hatte. Zuerst glaubte ich, er wäre aus geschmolzenem Gold. Dann wurde mir klar, dass es flackerndes Feuer war – gelbe Flammen, die irgendwie zu einem Thron modelliert worden waren. In die Beine und Armlehnen geätzte weiß glühende Hieroglyphen leuchteten so hell, dass sie meine Augen blendeten.
Der Inhaber des Throns war weniger beeindruckend. Re war ein alter ledriger Mann, der wie ein Fragezeichen vornübergebeugt saß, sein kahler Schädel war mit Leberflecken übersät und sein Gesicht so schlaff und faltig, dass es einer Maske ähnelte. Seine kholumrandeten Augen waren der einzige Hinweis, dass er noch lebte, sie waren voll Schmerz und Müdigkeit. Er trug Schurz und Halsschmuck, was ihm nicht annähernd so gut stand wie Anubis. Bis zu diesem Zeitpunkt war Iskander, der ehemalige Oberste Vorlesepriester, mit fast zweitausend Jahren der älteste Mensch gewesen, den ich kennengelernt hatte. Doch selbst kurz vor seinem Tod hatte Iskander nicht so hinfällig ausgesehen. Um alles noch schlimmer zu machen, war Res linkes Bein verbunden und auf den doppelten Umfang angeschwollen.
Er stöhnte und legte sein Bein auf einen Kissenstapel. Durch die Bandagen um sein Schienbein nässten zwei punktförmige Wunden – ganz ähnlich wie die Male der Reißzähne auf Carters Schulter. Als Re sein Bein massierte, wanderte durch die Venen grünes Gift in seinen Oberschenkel. Beim bloßen Hinschauen erzitterten meine Ba -Federn vor Ekel.
Re sah zum Himmel auf. Seine Augen nahmen das geschmolzene Gelb seines Throns an.
»Also gut, Isis!«, rief er. »Du sollst deinen Willen haben.«
Unter dem Baldachin kräuselte sich ein Schatten. Eine Frau erschien und kniete vor dem Thron nieder. Natürlich erkannte ich sie. Sie hatte lange dunkle Haare, die à la Kleopatra geschnitten waren, und trug ein hauchdünnes weißes Kleid, das ihre anmutige Gestalt betonte. Ihre leuchtenden Schwingen schimmerten wie Polarlicht.
Mit dem gesenkten Kopf und den flehentlich erhobenen Handflächen wirkte sie wie der Inbegriff der Demut; doch ich kannte Isis zu gut. Ich konnte das Lächeln erkennen, das sie zu verbergen versuchte. Ich spürte ihre Hochstimmung.
»König Re«, sagte sie. »Ich lebe, um Euch zu dienen.«
»Ha!«, erwiderte Re. »Du lebst für die Macht, Isis. Versuch nicht, mir etwas vorzuspielen. Ich weiß, dass du die Schlange erschaffen hast, die mich gebissen hat! Und deshalb findet auch niemand ein Heilmittel. Du begehrst meinen Thron für deinen Gatten, den Emporkömmling Osiris.«
Isis begann zu protestieren: »Mein König –«
»Genug! Wäre ich ein jüngerer Gott –« Re beging den Fehler, sein Bein zu bewegen. Er japste vor Schmerz. Das grüne Gift stieg weiter seine Venen hinauf. »Ist ja auch egal.« Er seufzte niedergeschlagen. »Ich bin dieser Welt sowieso müde. Ich habe genug von den Intrigen und Verschwörungen. Tu einfach etwas gegen das Gift.«
»Mit Freuden, mein König. Doch dazu brauche ich –«
»Meinen geheimen Namen«, beendete Re den Satz. »Ja, ich weiß. Versprich, mich zu heilen, dann wirst du alles bekommen, was du begehrst … und mehr.«
Ich hörte die Warnung in Res Stimme, Isis allerdings nicht oder sie kümmerte sich nicht darum.
»Ich schwöre, ich werde Euch heilen«, erklärte sie.
»Dann komm näher, Göttin.«
Isis beugte sich vor. Ich dachte, Re würde ihr seinen Namen ins Ohr flüstern, stattdessen packte er ihre Hand und drückte sie gegen seine zerfurchte Stirn. Ihre Fingerspitzen begannen zu glimmen. Sie versuchte sich zu entziehen, doch Re umklammerte ihr Handgelenk. Auf der ganzen Gestalt des Sonnengottes leuchteten glutrote Bilder seines langen Lebens: die erste Dämmerung; seine Sonnenbarke, die auf das gerade emporgestiegene Land Ägypten schien; die Erschaffung der anderen Götter und der Sterblichen; Res endlose Kämpfe mit Apophis, wenn er seine nächtliche Reise durch die Duat unternahm und das Chaos in Schach hielt. Es war zu viel, um alles aufzunehmen – mit jedem Herzschlag zogen Jahrhunderte vorbei. Sein geheimer Name war die Summe seiner Erfahrungen und selbst damals, in jenen lang vergangenen Zeiten, war Re schon unvorstellbar alt. Die glutrote Aura sprang auf Isis’ Hand über und wanderte ihren Arm hinauf, bis ihr ganzer Körper in Flammen gehüllt war. Sie schrie einmal auf. Dann erloschen die Flammen. Isis brach zusammen, aus ihrem Kleid stieg Rauch auf.
»So«, meinte Re. »Du hast überlebt.«
Es war schwer zu sagen, ob er Enttäuschung
Weitere Kostenlose Bücher