Die Kane-Chroniken – Der Feuerthron
»Kann er mich nicht hören?«
Anubis legte die Hand auf Walts Schulter. »Er kann keinen von uns beiden sehen, aber ich glaube, er spürt meine Anwesenheit. Er hat mich gerufen, weil er Rat braucht. Deshalb bin ich hier.«
»Deinen Rat? Wieso das?«
Das klang vermutlich schärfer, als ich beabsichtigt hatte, aber von allen Göttern, die Walt hätte anrufen können, erschien mir Anubis die abwegigste Wahl.
Anubis sah zu mir hoch, sein Blick war noch melancholischer als sonst.
»Du solltest jetzt weitergehen, Sadie«, sagte er. »Dir bleibt nur sehr wenig Zeit. Ich verspreche dir, ich werde mein Bestes tun, um Walts Kummer zu lindern.«
»Seinen Kummer?«, hakte ich nach. »Moment mal –«
Doch in diesem Moment öffnete sich die Tür des Krankenzimmers und die Strömungen der Duat zogen mich in den Raum.
Das Krankenzimmer war die netteste medizinische Einrichtung, in der ich je gewesen war, aber das hatte nicht viel zu sagen. Ich hasse Krankenhäuser. Mein Vater hat mit Vorliebe Witze darüber gerissen, dass ich schreiend zur Welt gekommen bin und erst damit aufgehört habe, als sie mich aus der Entbindungsstation gebracht hatten. Ich habe panische Angst vor Nadeln, Pillen und vor allem vor dem Geruch kranker Menschen. Tote Leute und Friedhöfe? Das macht mir nichts aus. Aber Krankheit … tja, tut mir leid, aber muss es so verdammt krank riechen?
Als ich Jaz das erste Mal im Krankenzimmer besucht hatte, musste ich all meinen Mut zusammennehmen. Dieses zweite Mal war nicht einfacher, selbst in Ba -Gestalt nicht.
Der Raum war ungefähr so groß wie mein Zimmer. Die Wände bestanden aus grob behauenem Sandstein. Große Fenster ließen das nächtliche Leuchten von New York herein. Sorgfältig beschriftete Wandschränke aus Zedernholz enthielten Medikamente, Verbandsmaterial, magische Amulette und Zaubertränke. In einer Ecke stand ein Brunnen mit einer lebensgroßen Statue der Löwengöttin Sachmet, der Schutzgöttin der Heilkundigen. Das Wasser, das durch Sachmets Hände floss, heilte angeblich auf der Stelle die Grippe und deckte den Großteil des täglichen Vitamin- und Eisenbedarfs, bisher hatte ich allerdings nicht den Mut aufgebracht, davon zu trinken.
Der Brunnen plätscherte so friedlich vor sich hin. Statt nach Desinfektionsmitteln duftete es nach verzauberten Vanillekerzen, die durch den Raum schwebten. Trotzdem war ich nervös.
Ich wusste, dass die Kerzen den Zustand der Patienten überwachten. Wenn es ein Problem gab, veränderten die Flammen ihre Farbe. Im Moment schwebten sie alle über dem einzigen belegten Bett – Jaz’ Bett. Die Flammen leuchteten dunkelorange.
Jaz’ Hände ruhten gefaltet auf ihrer Brust. Ihr blondes Haar war über das Kissen gekämmt. Auf ihrem Gesicht lag ein schwaches Lächeln, als hätte sie einen angenehmen Traum.
Und am Fußende von Jaz’ Bett saß … Jaz oder zumindest ein schimmerndes grünes Bild meiner Freundin. Es war kein Ba . Die Gestalt war vollkommen menschlich. War sie doch gestorben und das hier war ihr Geist?
»Jaz …« Erneut überlief mich eine Welle der Schuld. Alles, was in den letzten beiden Tagen schiefgelaufen war, hatte mit Jaz’ Opfer begonnen, an dem ich schuld war. »Bist du –?«
»Tot? Nein, Sadie. Das ist mein Ren .«
Ihr durchscheinender Körper flackerte. Als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass er aus Bildern zusammengesetzt war, er ähnelte einem 3-D-Video über Jaz’ Leben. Kleinkind Jaz saß in einem Hochstuhl und beschmierte sich das Gesicht mit Babybrei. Die zwölfjährige Jaz schlug in einer Sporthalle Rad und übte für ihren ersten Cheerleaderauftritt. Die jetzige Jaz öffnete ihren Schulspind und fand ein leuchtendes Tit -Amulett, unsere magische Visitenkarte, die sie nach Brooklyn geführt hatte.
»Dein Ren «, wiederholte ich. »Ein weiterer Teil deiner Seele?«
Das leuchtende grüne Bild nickte. »Die Ägypter glaubten an fünf unterschiedliche Teile der Seele. Der Ba ist die Persönlichkeit. Der Ren ist –«
»Dein Name«, erinnerte ich mich. »Aber wie kann das dein Name sein?«
»Mein Name ist meine Identität«, erwiderte sie. »Die Summe meiner Erfahrungen. Solange sich jemand an meinen Namen erinnert, existiere ich noch, selbst wenn ich sterbe. Verstehst du das?«
Tat ich nicht, nicht mal ansatzweise. Aber ich verstand, dass sie vielleicht sterben würde und dass ich daran schuld wäre.
»Es tut mir so leid.« Ich gab mir Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. »Hätte ich nicht diese
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