Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
er euch helfen muss. Trotzdem braucht ihr, fürchte ich, noch einen besseren Berater – einen gefährlicheren Berater.«
Ich schluckte. »Du sagtest, nur eine einzige Person könne uns diesen Zauber lehren. Wer?«
»Der einzige Magier, der wahnsinnig genug war, um überhaupt nach einem solchen Zauberspruch zu forschen. Sein Prozess findet morgen bei Sonnenaufgang statt. Ihr müsstet aber zuerst euren Vater besuchen.«
»Moment. Was?«
Wind blies durch den Pavillon. Anubis’ Hand schloss sich fester um meine.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte er. »Hör zu. Mit den Seelen der Toten geschieht etwas. Sie werden … Da, schau!«
Er deutete auf ein Geisterpaar neben uns. Die Frau tanzte barfuß in einem schlichten weißen Leinenkleid. Der Mann trug Kniehosen und den Gehrock eines Siedlers aus dem neunzehnten Jahrhundert, sein Kopf hing jedoch komisch schief, er schien gehängt worden zu sein. Um die Beine des Mannes wand sich efeuähnlich schwarzer Nebel. Nach drei weiteren Walzerschritten war er völlig eingewickelt. Die düsteren Ranken zogen ihn in den Boden und er verschwand. Die Frau in Weiß tanzte allein weiter, offensichtlich hatte sie nicht bemerkt, dass ihr Partner von den bösen Fingern des dichten Nebels verschluckt worden war.
»Was – was war das ?«, fragte ich.
»Wir wissen es nicht«, sagte Anubis. »Je stärker Apophis wird, desto häufiger passiert das. Die Seelen der Toten verschwinden, sie werden tiefer in die Duat gezogen. Wir haben keine Ahnung, wohin sie gehen.«
Fast wäre ich nun doch gestolpert. »Meine Mutter. Geht es ihr gut?«
Als Anubis mich gequält ansah, wusste ich die Antwort. Mom hatte mich gewarnt – dass wir sie vielleicht nie wiedersehen würden, wenn wir keinen Weg fanden, Apophis zu besiegen. Sie hatte mir diese Nachricht geschickt und mich gedrängt, den Schatten der Schlange aufzuspüren. Irgendwie musste es mit ihrem Problem zusammenhängen.
»Sie ist spurlos verschwunden«, vermutete ich. Mein Herz pochte gegen meine Rippen. »Es muss etwas mit dieser Schattengeschichte zu tun haben, oder?«
»Sadie, ich wünschte, ich wüsste es. Dein Vater ist – er tut alles, um sie zu finden, aber –«
Der Wind unterbrach ihn.
Habt ihr je die Hand aus einem fahrenden Auto gestreckt und gespürt, wie euch der Wind entgegenschlägt? So ähnlich fühlte es sich an, nur zehnmal stärker. Ein Kraftkeil drängte Anubis und mich auseinander. Ich taumelte rückwärts, meine Füße schwebten nicht länger.
»Sadie …« Anubis streckte die Hand nach mir aus, doch der Wind trieb ihn noch weiter weg.
»Schluss jetzt!«, sagte eine piepsige Stimme zwischen uns. »Keine öffentlichen Zuneigungsbezeugungen, wenn ich Wache schiebe!«
Die Luft nahm menschliche Gestalt an. Anfangs war es nur eine schwache Silhouette. Doch dann wurde sie fester. Vor mir stand ein Mann in einer altmodischen Pilotenkluft – Lederhelm, Schutzbrille, Schal, Fliegerjacke, er ähnelte den Royal Air Force -Piloten auf Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings war er nicht aus Fleisch und Blut. Seine Gestalt wirbelte und bewegte sich. Mir fiel auf, dass er aus herumfliegendem Abfall zusammengesetzt war: aus Dreck, Papierfetzen, Pusteblumenschirmen, getrockneten Blättern – alles kreiste wild umeinander, wurde jedoch vom Wind in einer so festen Collage zusammengehalten, dass man die Gestalt aus der Ferne für einen normalen Sterblichen halten konnte.
Er drohte Anubis mit dem Finger. »Dies ist der Gipfel der Beleidigung, Junge!« Seine Stimme zischte wie Luft, die einem Ballon entweicht. »Du wurdest mehrfach verwarnt.«
»Moment mal!«, rief ich. »Wer bist du? Und Anubis ist ja wohl kaum ein Junge. Er ist fünftausend Jahre alt.«
»Genau«, fuhr mich der Pilot an. »Bloß ein Kind. Und ich habe dir nicht erlaubt zu sprechen, Mädchen!«
Der Pilot explodierte. Und zwar mit solcher Wucht, dass es mir in den Ohren fiepte und ich auf dem Hintern landete. Rings um mich brachen die Normalsterblichen – meine Freunde, Lehrer, sämtliche Schüler – einfach zusammen. Anubis und den Geistern hingegen schien die Explosion nichts anhaben zu können. Der Pilot nahm wieder Gestalt an und starrte wütend zu mir herunter.
Ich rappelte mich auf und versuchte meinen Zauberstab aus der Duat herbeizurufen. Was natürlich nicht klappte.
»Was hast du getan?«, wollte ich wissen.
»Sadie, ist schon gut«, sagte Anubis. »Deine Freunde sind bloß bewusstlos. Schu hat lediglich den Luftdruck
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