Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
Leonid hinter mir her, um ihn meinem Bruder vorzustellen, der herumtorkelte und sich die Augen rieb.
»Was ist passiert?«, fragte Carter. Er sah Leonid grimmig an. »Wer –?«
Ich erzählte ihm die Ein-Minuten-Version: Anubis’ Besuch, wie sich Schu eingemischt hatte, das Auftauchen des Russen. »Leonid hat Informationen über den drohenden Angriff auf den Ersten Nomos«, sagte ich. »Die rebellischen Magier sind hinter ihm her.«
Carter kratzte sich den Kopf. »Willst du ihn im Brooklyn House verstecken?«
»Nein«, sagte ich. »Ich muss ihn sofort zu Amos bringen.«
Leonid blieb die Luft weg. »Amos? Er Seth – isst Gesicht?«
»Amos wird dein Gesicht nicht essen«, versicherte ich ihm. »Jacobi hat dir Gruselmärchen aufgebunden.«
Leonid wirkte noch immer verängstigt. »Amos nicht werden Seth?«
Wie sollte ich es ihm erklären, ohne dass es noch schlimmer klang? Ich konnte nicht in korrektem Russisch sagen: Seth hat von ihm Besitz ergriffen, aber das war nicht Amos’ Schuld und es geht ihm auch schon viel besser.
»Nicht Seth«, sagte ich. »Amos gut.«
Carter musterte den Russen und sah mich besorgt an. »Sadie, was, wenn das eine Falle ist? Traust du diesem Typen?«
»Oh, mit Leonid komm ich klar. Er will bestimmt nicht von mir in eine Bananenschnecke verwandelt werden, oder, Leonid?«
»Njet« , sagte Leonid ernst. »Nix Bananenschnecke.«
»Na siehst du.«
»Was ist mit unserem Besuch bei Thot?«, fragte Carter. »Das kann nicht warten.«
Er sah wirklich beunruhigt aus. Wahrscheinlich dachte er genau dasselbe wie ich: Unsere Mutter war in Gefahr. Die Seelen der Toten verschwanden und es hatte etwas mit Apophis’ Schatten zu tun. Wir mussten den Zusammenhang herausfinden.
»Du besuchst Thot«, sagte ich. »Nimm Walt mit. Und, ähm, behalt ihn im Auge, ja? Anubis wollte mir etwas über ihn erzählen, aber die Zeit hat nicht gereicht. Und in Dallas, als ich Walt in der Duat gesehen habe …«
Ich brachte es nicht über mich, den Satz zu Ende zu sprechen. Schon der Gedanke an Walt in Mumienbinden trieb mir Tränen in die Augen.
Zum Glück begriff Carter, worum es ging. »Ich passe auf ihn auf«, versprach er. »Wie kommst du nach Ägypten?«
Ich grübelte. Leonid war offensichtlich mit Schu Airways hergeflogen, aber ich bezweifelte, dass der kleinliche Pilotengott mir helfen würde. Und fragen wollte ich nicht.
»Wir riskieren es: ein Portal«, sagte ich. »Ich weiß, sie waren in letzter Zeit ein bisschen unsicher, aber es ist ja nur ein Katzensprung. Was soll da schon schiefgehen?«
»Du könntest in einer Wand steckenbleiben«, sagte Carter. »Oder in tausend Einzelteilchen in der Duat enden.«
»Huh, Carter, du machst dir ja Sorgen um mich! Aber mal im Ernst, uns passiert schon nichts. Und wir haben auch nicht wirklich die Wahl.«
Ich drückte ihn kurz – ich weiß, schrecklich sentimental, aber ich wollte Verbundenheit demonstrieren. Dann nahm ich, bevor ich meine Meinung noch änderte, Leonid an der Hand und wir rannten quer über das Schulgelände.
Von meiner Unterhaltung mit Anubis drehte sich mir noch immer der Kopf.
Wie konnten Isis und Horus es wagen, uns den Umgang zu verbieten, wo wir nicht mal zusammen waren! Und was hatte mir Anubis über Walt erzählen wollen? Vielleicht wollte er unsere vom Pech verfolgte Beziehung beenden und mir seinen Segen für Walt geben. (Kaum.) Vielleicht wollte er mir auch seine unsterbliche Liebe erklären und mit Walt um meine Gunst kämpfen. (Sehr unwahrscheinlich, außerdem lege ich keinen Wert darauf, dass man um mich wie um einen Basketball kämpft.) Oder vielleicht – das war am wahrscheinlichsten – wollte er mir irgendeine Hiobsbotschaft verkünden.
Soweit ich wusste, hatte Anubis Walt mehrmals besucht. Keiner von beiden rückte richtig mit der Sprache heraus, warum, doch da Anubis der Geleiter der Toten war, hatte er Walt vermutlich auf den Tod vorbereitet. Vielleicht hatte Anubis mich warnen wollen, dass der Zeitpunkt nahte – als ob ich daran erinnert werden müsste.
Anubis: tabu. Walt: auf der Schwelle des Todes. Wenn ich beide Typen verlor, die ich mochte, tja … wozu dann noch die Welt retten?
Na gut, das war ein bisschen übertrieben. Aber nur ein bisschen.
Darüber hinaus war meine Mutter in Gefahr und Sarah Jacobis Rebellen planten irgendeinen schrecklichen Angriff auf die Zentrale meines Onkels.
Warum fühlte ich mich trotzdem so … hoffnungsvoll?
Eine Idee ließ mir keine Ruhe – ein winziger
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