Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
aber ich wusste, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte, und damals war er lebendig gewesen. Als Re Apophis vor langer Zeit in der Unterwelt einsperrte, hatte er, damit der Feind in seinem Gefängnis blieb, einen Teil seiner Seele geopfert – seine Erscheinungsform als Chepre, der Skarabäus der Morgensonne. Er hatte Apophis unter einer Lawine lebender Käfer begraben.
Als Sadie und ich dieses Gefängnis letzten Frühling ausfindig machten, waren Tausende von Skarabäen bloß noch vertrocknete Hüllen gewesen. Nur ein einziger goldener Käfer hatte Apophis’ Ausbruch überlebt: der Überrest von Chepres Macht.
Re hatte versucht, diesen Skarabäus herunterzuschlucken. (Ja, eklig, ich weiß.) Als das nicht funktionierte … hatte er ihn Zia angeboten.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Zia den Skarabäus genommen hatte, aber irgendwie wusste ich, dass dieses Amulett der gleiche Käfer war.
»Zia –«
Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Später.«
Dann deutete sie auf Setne, der mitten in seinem Zauberspruch war.
Na gut, war vielleicht nicht die beste Zeit, um zu reden. Ich wollte ja nicht, dass der Tunnel über uns zusammenstürzte. Aber mein Hirn ratterte auf Hochtouren.
Und du bist nicht draufgekommen? , hatte Setne mich verhöhnt.
Ich wusste, dass Re von Zia fasziniert war. Sie war sein Lieblingskindermädchen. Setne hatte erwähnt, dass Zia Probleme hatte, ihre Temperatur zu kontrollieren. Der alte Mann zehrt an dir , hatte er gesagt. Und Re hatte Zia diesen Skarabäus gegeben – buchstäblich ein Stück seiner Seele –, als wäre sie seine Hohepriesterin … oder vielleicht sogar noch etwas Wichtigeres.
Der Tunnel rumpelte. Die Wand am Ende des Gangs zerfiel zu Staub, dahinter kam eine Kammer zum Vorschein.
Setne drehte sich mit einem Lächeln zu uns um. »Die Vorstellung beginnt, Kinder!«
Wir folgten ihm in einen kreisrunden Raum, der mich an die Bibliothek im Brooklyn House erinnerte. Der Boden war ein funkelndes Mosaik aus Wiesen und Flüssen. Auf den Wänden schmückten gemalte Priester gemalte Kühe mit Blumen und Federkopfschmuck für irgendeine Feierlichkeit, während alte Ägypter Palmwedel und bronzefarbene Handklappern schwenkten, die Sistrum genannt werden. Das Gewölbe zeigte Osiris auf seinem Thron, wie er das Urteil über einen Stier fällt. Einen absurden Moment lang fragte ich mich, ob Ammit auch die Herzen bösartiger Kühe fraß und ob sie Rindfleisch mochte.
In der Mitte der Kammer stand auf einem sargartigen Podest eine lebensgroße Statue des Apis-Stiers. Sie war aus dunklem Stein – vielleicht Basalt –, jedoch so kunstvoll bemalt, dass sie lebendig wirkte. Die Augen schienen mir zu folgen. Bis auf einen kleinen weißen Diamanten auf der Brust war das Fell glänzend schwarz, auf dem Rücken des Stiers lag eine goldene Decke, deren Schnitt und Stickereien sie wie Falkenflügel aussehen ließen. Zwischen seinen Hörnern saß ein goldenes Frisbee – die Sonnenscheibenkrone. Darunter ragte aus der Stirn des Stiers ein gebogenes Horn. Auf den ersten Blick erinnerte es an ein Einhorn, allerdings war es eine sich aufrichtende Kobra.
Vor einem Jahr hätte ich noch gesagt: »Abgefahren, aber wenigstens ist es nur eine Statue.« Doch mittlerweile hatte ich zahlreiche Erfahrungen mit ägyptischen Statuen gemacht, die lebendig geworden waren und das Anch aus mir heraustrampeln wollten.
Setne schien unbesorgt. Er schlenderte auf den Steinstier zu und tätschelte ihm das Bein. »Der Schrein des Apis! Ich habe diese Kammer für die von mir auserwählten Priester und mich erbauen lassen. Jetzt brauchen wir nur noch zu warten.«
»Warten worauf?«, fragte Zia. Klug, wie sie ist, blieb sie mit mir am Eingang stehen.
Setne sah auf seine nicht existierende Uhr. »Wird nicht lange dauern, ist nur so eine Art Zeitschaltuhr. Kommt rein! Macht’s euch gemütlich.«
Ich trat einen Schritt vor und wartete darauf, dass sich die Wand hinter mir wieder schließen würde, doch der Durchgang blieb offen. »Bist du sicher, dass das Buch noch hier ist?«
»Aber klar.« Setne ging um die Statue und tastete den Sockel ab. »Ich muss nur darauf kommen, welche dieser Klappen im Podest noch mal die richtige war. Ich hätte ja gern alles in dieser Kammer aus Gold gemacht. Das wäre noch viel cooler gewesen. Aber Dad hat rumgeknausert.«
»Dein Dad.« Zia stellte sich neben mich und schob ihre Hand in meine, wogegen ich absolut nichts einzuwenden hatte. Um ihren Hals funkelte die
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