Die Kanzlerin - Roman
der so klein war, wenn er ihn in seine Hände nahm und ihr durch die Haare strich; wenn ihr Mädchengesicht sich in ein Frauengesicht verwandelte, in das Gesicht einer Frau, die jung geblieben war und auf ihn gewartet hatte, fünfundvierzigJahre lang, bis sie sich begegneten. »Ich habe nicht geglaubt, dass du einmal kommst, aber du bist gekommen. Wir haben uns gefunden. Sag mir etwas Gutes, Mann. Ich werde lange unterwegs sein. Du brauchst nicht viel zu sagen. Nur so viel, dass ich Worte habe, bis du auch kommst. Du bist traurig, aber es hat uns schon gegeben, bevor wir uns getroffen haben. Und dann haben wir uns gefunden. Und wer sich wie wir gefunden hat, kann sich nie mehr verlieren. Filip, ich habe dir gesagt, ich will dein Schatten sein. Das hast du nicht sofort verstanden, und du hast sogar Angst gehabt davor, einen Schatten zu haben oder zu denken, dass ein Mensch nur der Schatten sein will eines anderen Menschen. Aber dann hast du mich verstanden, dann hast du gespürt, dass ich so ein Mensch bin, und du hast mit meinem Schatten gelebt. Und wenn du glücklich warst, dann war ich das auch. Und wenn du böse warst, dann war ich das auch. Aber immer wenn du dich umgedreht hast, war ich da. Und ich durfte bei dir sein, und dafür danke ich dir. Filip, dieser Schatten bleibt. Du wirst nie allein sein. Wenn du traurig bist, dann drehst du dich um, und du wirst meinen Schatten sehen. Und darum wirst du auch die Sonne wieder sehen. Ich wünsche dir, dass es dir gutgeht und du fröhlich lebst. Dann kann ich dein fröhlicher Schatten sein. Und wenn du einmal müde bist, dann werde ich leise sein und ruhig, damit du schlafen kannst. Ich war dein Schatten, Mann, und der bleibt, solange du lebst. Du liebst mich, und darum geht es mir gut. Ich danke dir, Mann. Verzeih mir alles. Ich habe vieles falsch gemacht. Verzeih mir alles, Filip. Ich habe dir schon lange alles verziehen.«
Und als die letzte Nacht kam, da wussten sie das beide.
Loderer schaute sich um. Aber in einer Tiefgarage ist wenig Licht. Sie hatte an ihn geglaubt, geglaubt, dass er ein guter Mann ist. Aber jetzt war sie tot und der Schatten eines bösen Mannes. Zügelloswar er und seinen Abgründen ausgeliefert. Loderer nahm ein Taschentuch. Beim Kaffeeautomaten musste er Bossdorf grüssen, dann Janz. Endlich war er in seinem Büro und schloss die Tür.
» H err Kranich, eigentlich kann ich mir gar nicht vorstellen, dass Sie an einem Computer sitzen oder eine SMS schreiben. Warum wohl, glauben Sie, ist mir diese Vorstellung so fremd?«
Kranich hatte es sich angewöhnt, Gesprächsanfänge der Kanzlerin zu ignorieren, weil sie in aller Regel einen langen Anlauf nahm, einzig und allein mit dem Zweck, ihn zu ärgern, oder manchmal auch, um ihn zu beleidigen.
»Johannes«, sagte die Kanzlerin, »eigentlich könnte ich Sie für diese kurze Unterhaltung – viel Zeit habe ich nicht – einmal beim Vornamen nennen. Ein Schweizer namens Johannes. In welchen Kantonen ist dieser Name denn gebräuchlich?«
»Im Kanton Wallis zum Beispiel«, sagte Kranich. »Auch in der Ostschweiz, der Innerschweiz – in katholischen Kantonen ist er verbreiteter als in protestantischen.«
»Passt«, sagte die Kanzlerin. »Unter einem Johannes kann ich mir sehr gut einen Mönch vorstellen. Einen Pater. Wollten Sie einmal Kirche studieren, Johannes?«
Was auch immer sie von ihm wollte – es fiel ihr offenbar schwer, zur Sache zu kommen. »In meiner Verwandtschaft gibt es einige Priester«, sagte Kranich.
»Wie schön für Sie, Kranich, dann wird ja regelmässig für Sie gebetet. Vielleicht ist es besser, wenn ich Sie weiter beim Nachnamen nenne, auch wenn dieser bei mir seltsame Gefühle auslöst, mitunter. Simsen Sie gelegentlich, Herr Kranich?«
Die Kanzlerin drehte ihm den Rücken zu. Hätte sie ihn im Ernst verdächtigt, ihr diese Botschaften geschickt zu haben, siehätte bei ihm kein Wort darüber verloren. Aber Kranich war es nicht, da war sie sich sicher.
»Herr Kranich, ich habe Sie etwas gefragt.«
»Manchmal eine SMS, ja, wenn auch ungern.«
»Ach ja, und warum ungern?«
»Das persönliche Gespräch ist mir lieber.«
»Dann will ich Sie mal ganz persönlich fragen, Herr Kranich, was Sie an meiner Stelle tun würden, wenn Sie plötzlich eine SMS bekämen von einer völlig unbekannten Person.«
»Sofort die Nummer wechseln«, sagte er spontan und sah in ihr verärgertes Gesicht. »Und die nötigen und für solche Fälle vorgesehenen Nachforschungen einleiten«,
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