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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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obsolet geworden, sondern das Netz hat alle Schranken eingerissen: Es gebe keine Gewissheiten mehr, hatte er geschrieben, und vor allem gebe es keinen Unterschied mehr zwischen dem, was jemand tue, und dem, was jemand sich vorstelle. Weil die Vorstellung allein im Netz eine solche Macht entfalte, dass jeder Gedanke im Grunde eine Tat sei und man es heute schon mit unvorstellbar vielen Taten zu tun habe, unter der Maskerade der Phantasie: Wir leben in einer phantastischen Welt. Und trotzdem ist es keine Welt der Phantasten. Sondern immer noch eine Welt, die den Mächtigen gehört.
    Vermutlich waren diese Abschnitte von Janz oder Bossdorf rausgestrichen worden, jedenfalls kamen sie in der Rede der Kanzlerin nicht mehr vor.
    Meist aber war Loderer beschäftigungslos, was das Amt nicht interessierte. Die monatlichen Gehaltsüberweisungen kamen anstandslos, Gespräche mit Vorgesetzten gab es keine, und darüber, dass er wie viele andere für sein Geld nichts leistete, sprach niemand, vermutlich nicht einmal hinter seinem Rücken. Für die Wichtigen gab es Wichtigeres zu tun, und jene, die wie er nach der Bonner Zeit ausrangiert wurden, gingen sich aus dem Weg, weil sie sich schämten. So bedeutungslos waren sie, dass sie sich nicht einmal dazu aufgefordert fühlten, einen beschäftigten Eindruck zu machen.

    »Frau Male, ich sage dir jetzt, was für eine Frau du bist: Du bist intelligent, voyeuristisch, du stehst auf Machomänner, dominierst aber auch gern. Du bist einfühlsam, du hast kleine Finger, du bist blond oder schwarzhaarig, und du hast einen miserablen Orientierungssinn. Oft bist du unruhig und hast Träume, die dich anmachen. Du kannst sehr gut zuhören. Du ziehst dich gerne unauffällig provozierend an, weil du die Männer nervös machen willst. Es macht dir Spass, Männer zu frustrieren. Manchmal fühlst du dich aber auch völlig körperlos und versinkst in deinen Gedankenwelten. In diesen Phasen der Abwesenheit wirkst du auf deine Umgebung sehr kalt. Aber du bist auch eine sehr realistische Frau, die sehr nüchtern denkt, bevor sie etwas tut. Frau Male, du hast hohe Wertvorstellungen, obwohl dich Moral überhaupt nicht interessiert. Du redest gern über Sex. Du könntest dir aber auch vorstellen, nie mehr Sex zu haben in deinem Leben. Menschenwürde ist dir wichtig. Und du bist ein sehr nervöser Mensch. Sagst du mir jetzt, was ich für ein Mann bin, Frau Male?«

    Loderer fühlte sich erschöpft. Als um 23 Uhr noch immer keine Post von ihr gekommen war, ging er ins Bett. Zwei Stunden später war er plötzlich hellwach, setzte sich an den Computer und las: »Du bist ein Einzelgänger, aber kein Eigenbrötler. Dein Selbstschutzmechanismus ist sehr gut ausgebaut. Die meisten Menschen lässt du nur an der Oberfläche dümpeln, ohne dass sie es merken. Deinen Bekannten zeigst du dich offen und locker, als Typ, der alles im Griff hat. Was dich aber wirklich betroffen macht, das machst du nur mit dir allein aus. Du magst deine schwache Seite nicht, und mit Schmerz und Kummer kannst du nicht gut umgehen. Du magst deine Arbeit, du feierst gerne und bist sehr freiheitsliebend. Du bist phantasievoll und erfinderisch. Wenn du beobachtest, bist du nicht ungeduldig.«
    Verdammt noch mal. Loderer las diesen Satz noch einmal:»Wenn du beobachtest, bist du nicht ungeduldig.« Dass er ein Beobachter war, klar. Und dass er ein ungeduldiger Mensch war, klar. Aber wie konnte sie wissen, dass diese Dinge miteinander verknüpft waren?
    »Du bist schlank und hast ein gepflegtes Äusseres. Du hast weiche Hände und Schuhgrösse 43. Du hast braunes Haar und trägst keinen Schmuck. Du magst die Anonymität, sehnst dich aber nach Familie. Guter Sex gefällt dir. Liebe muss nicht unbedingt dabei sein. Du magst schöne, selbstbewusste Frauen, die dir das Wasser reichen können. Lieben und geliebt werden – das ist für dich ein heikles Thema.« Und nun sei sie gespannt auf seine Antwort.
    Loderer schrieb: »Volltreffer. Du hast mich erkannt bis in die Zehenspitzen. Schuhgrösse stimmt und ein paar andere Dinge auch. Ich bin ein Beobachter. Menschen zu beobachten ist meine grösste Leidenschaft. Zwar wiederholen sich Verhaltensweisen, aber ich warte auf die einzigartigen Augenblicke, auf die Offenbarungen. Und ich schütze mich. Niemand soll mich überraschen können. Ich bin auf alles vorbereitet. Also auch auf dich, Frau Male. Und anonym bin ich auch gern. Dann verliere ich meinen Panzer. In U-Bahnen zum Beispiel. Dann bin ich einer

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