Die Kanzlerin - Roman
schlecht, dass sie nicht mehr reden konnte.
»Wir sterben alle«, sagte Valentin Hendricks und klammerte sich an Lothar Engel. Sie waren die beiden Einzigen, die noch standen.
Es war jetzt absolut ruhig in der Kabine.
»Fenster einschlagen!«, sagte Hendricks und wollte zu einem Fenster gehen. Aber seine Beine waren butterweich, und Engel konnte ihn nicht halten.
Merrit Amelie Kranz und Nico Glanzmann lagen auf dem Bauch, reglos. Titus Annaheim und Laetitia lagen auf dem Rücken, Yvonne verkrümmt auf dem Sofa. Aber zuerst hatte es die jungen Kerle vom BKA erwischt und die durchtrainierten Personenschützer.
Engel schaffte es bis zum Fenster. Er sah den Hubschrauber und klopfte an die Scheibe.
»Einschlagen!«, sagte Hendricks, aber Engel hörte es nicht, und als er sich umdrehte, lag Hendricks röchelnd auf dem Boden. »Die können uns nicht helfen, Engelchen. Das geht nicht. Technisch gesehen.«
Engel sackten die Beine weg. Er wehrte sich und knallte rückwärts gegen eine Scheibe.
Sie zerbrach nicht.
» H immelherrgott, diese verfluchten Handys. Und wenn sie keinen Empfang haben, dann klingelt das normale Telefon. Danke, finde den Weg«, sagte Kari Fässler und ging zur Kabine. Er nahm den Hörer und sagte lange kein Wort. Und plötzlich: »Verdammt noch mal, das darf doch nicht wahr sein.«
Der Verteidigungsminister ging ins Restaurant zurück, wo eine entspannte Atmosphäre herrschte. »Muss leider diese wunderbare Ruhe stören. Kollegin, Kollegen, mir wurde eben mitgeteilt, dass es auf der Seilbahn zu einem Zwischenfall gekommen ist. Piloten haben beobachtet, wie nach und nach alle Insassen ohnmächtig wurden. In zwei Minuten kommt die Gondel hier an. Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.«
Verkehrsminister Fabio Coradi sprang auf, Aussenministerin Catherine Jaeger sass wie erstarrt auf ihrem Stuhl, Pirmin Storm, der Finanzminister, legte den Kopf auf den Tisch.
»Wir gehen nach draussen«, sagte Fässler, »noch wissen wir ja nicht, was geschehen ist.« Er liess die Dachterrasse räumen und ordnete faktisch einen Zimmerarrest an für alle Angestellten. Fässler war kein imponierender Mann. Er war nicht sehr eloquent, nicht flexibel und kein Schauspieler, und was er als Schweizer Verteidigungsminister politisch zu vertreten hatte, interessierte kaum.
Kari Fässler stand bei der Bergstation in der ersten Reihe, als die Seilbahn stoppte. Aber die Türen öffneten sich nicht, und er versuchte, etwas zu erkennen in der Gondel. Er sah nichts.
Nach ein paar Minuten hatte der Technische Dienst die Gondeltür mit einer Notmechanik geöffnet. Da noch keine Sanitätervor Ort waren, betrat Fässler als Erster die Gondel. Als Verteidigungsminister hatte er zwar keinen einzigen Krieg geführt und war auch als Soldat nie im Ernstfall aktiv, hatte also nur privat schon Tote gesehen, aber er machte nur wenige Schritte, und dann wusste er: Die sind alle tot. Er fühlte einer jungen Frau den Puls, nichts.
»Komm raus, Fässler, raus aus der Kabine, Giftalarm, Kari, die Kabine ist vergiftet!« Coradi war ausser sich.
Fässler ging zurück, aber nicht schnell, weil das, was er gesehen hatte, ihn lähmte. Er musste einen Krisenstab einberufen. Und zwar sofort. Man musste sich das vorstellen: Die deutsche Kanzlerin stirbt in der Schweiz und mit ihr mehrere Minister und viele andere Menschen! Ein Attentat in der Schweiz, damit hatte man es zu tun.
Kari Fässler sah zu, wie kurz hintereinander mehrere Helikopter landeten. Dutzende Leute sprangen heraus. Notärzte, Soldaten, Feuerwehrleute und Polizisten aus den angrenzenden Kantonen. Gewiss, der schreckliche Anblick der Leichen würde ihn ein Leben lang begleiten, diese armen Menschen, aber politisch gesehen war das hier eine Katastrophe. Wobei in Kari Fässlers Gedanken der Begriff Katastrophe nicht vorkam. Weil das hier, das war eine noch viel schlimmere Sache. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er unter Schock stand.
»Kari, wenn du willst, mach ich die ersten Telefonate«, sagte Fabio Coradi, und Fässler war ihm dankbar dafür. »Der Inlandsgeheimdienst untersteht dem Justizdepartement. Und das führt Frau Geiger. Und die muss jetzt veranlassen, dass ein Krisenstab eingerichtet wird«, sagte Coradi. »Ein solches Attentat fällt in den Verantwortungsbereich des Verteidigungsministers, und wir können nicht wissen, ob es in diesen Stunden noch weitere Anschläge gibt. Entsprechend ist dieses Departement federführend für die militärische
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