Die Kanzlerin - Roman
»Sie muss aufgebaut werden. Jugend erwach! (Bau auf, bau auf!) Erste Strophe: Jugend erwach, erhebe dich jetzt, die grausame Nacht hat ein End. / Und die Sonne schickt wieder die Strahlen hernieder vom blauen Himmelsgezelt. … «
Kiki Ritz war empört. »FDJ, das ist Freie Deutsche Jugend, das ist DDR.«
»Das ist ein schönes Lied«, sagte Engel, und Merrit Amelie Kranz sang mit: »Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf. / Für eine bessere Zukunft richten wir die Heimat auf!«
»Sie ist da, die Kanzlerin ist da, und sie singt mit«, kreischte Merrit Amelie Kranz plötzlich und zeigte auf die Theke.
»Sie hat gebechert, vermute ich jetzt einmal ganz offen«, sagte Engel, ohne hinzuschauen, weil er weitersingen wollte.
»Und wie schön sie ist, unsere Kanzlerin, feuerrot wie die Sonne.«
»Schön, dann soll sie jetzt schön mitsingen«, sagte Engel. »Letzte Strophe: Kein Zwang und kein Drill, der eigene Will’ bestimme dein Leben fortan. / Blicke frei in das Licht, das dir niemals mehr zerbricht. Deutsche Jugend, steh deinen Mann. «
»Du hast eine wunderschöne Stimme, Lothar.«
»Danke«, sagte Engel und erbrach sich. Yvonne war nicht zu sehen, und Laetitia schlief.
»Schaut, schaut, die Schweizer Luftwaffe!« Valentin Hendricks klopfte an die Scheibe, und Merrit Amelie Kranz, Kiki Ritz und Titus Annaheim winkten. Die beiden anderen Musiker waren eingenickt, aber ein Bogenstrich auf seinem Kontrabass – und sie sassen wieder auf ihren Hockern.
»Ich glaube, die Brötchen, die man uns da serviert hat, waren verdorben.« Kiki Ritz sah elend aus.
» S ämi, da stimmt etwas nicht. Was siehst du jetzt?«
Samuel hatte beobachtet, dass sich zwei Personen in der Gondel übergeben hatten. »Sie lachen wieder«, sagte er, »und sie haben einen Kreis gebildet.«
»Und?«, fragte Jakob.
»Sie singen.«
»Und?«
»Und einer der Minister – ich glaube, Hendricks – winkt uns zu. Und ein paar andere auch.«
»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Jakob.
»Aber Glanzmann hat das Victoryzeichen gemacht vor einer Minute.«
»Ich will Anweisungen aus der Zentrale«, sagte Jakob und nahm Funkkontakt auf. »Einigen Personen in der Gondel ist es offenbar übel geworden. Sie haben sich übergeben. Kommen.«
»Verstanden. Aber was heisst einige? Kommen.«
»Samuel hat zwei gesehen. Sie haben sich wieder erholt. Es wird getanzt und viel gelacht an Bord, aber da stimmt etwas nicht. Kommen.«
»Verstanden. Passagiere haben sich erholt, lachen, aber du glaubst, dass etwas nicht stimmt. Was stimmt nicht, Jakob? Kommen.«
»Frage verstanden. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Kommen.«
»Köbi, ich glaube, der Gondelfahrer ist ohnmächtig geworden. Er ist im Führerstand zusammengesackt«, sagte Samuel.
»Einsatzzentrale, Notruf. Mein Kopilot hat mir eben mitgeteilt, dass der Fahrer der Seilbahn offenbar ohnmächtig geworden ist. Was tun wir? Kommen.«
»Verstanden. Fahrer der Seilbahn ohnmächtig. Näher ranfliegen. Beobachten. Weitere Befehle abwarten. Kommen.«
»Verstanden, fliegen jetzt so nah wie möglich an die Seilbahn. Ende.«
»Sämi, was siehst du?«
»Zwei weitere Personen an Bord sind zusammengesackt. Und jetzt noch jemand. Eine Frau. Rote Windjacke. Vermutlich die Kanzlerin. Und jetzt greift sich ein kräftiger junger Mann an die Kehle. Fällt um.«
»Einsatzzentrale, Notruf. Notruf. Weitere Passagiere in der Gondel sind ohnmächtig geworden. Warte auf Befehle. Kommen.«
»Befehl von ganz oben: beobachten, nichts unternehmen. Die Seilbahn ist in zwei bis drei Minuten auf dem Gipfel. Rettungsdienste avisiert. In der Luft können wir nichts machen, nichts, was schnell genug geht. Kommen.«
»Seilbahn stoppen«, sagte Jakob. »Ich würde die Seilbahn sofort stoppen. Dann gehen wir runter. Scheiben einschlagen, Leiter, Bewusstlose sofort ins Spital transportieren. Kommen.«
»Verstanden, Jakob. Nicht machbar in der Zeit. Weiter beobachten. Alles andere wird auf dem Säntis geregelt. Kommen.«
»Verstanden. Beobachten. Ende. – Verdammt noch mal, Sämi, wir dürfen nichts tun. Und in dieser Kabine verrecken Leute, das spüre ich. Was siehst du? Verdammt noch mal, sag mir, was du siehst!«
Samuel sagte: »Die kippen alle um, einer nach dem andern.« Dann schwieg er.
» K iki Ritz atmet nicht mehr.« Merrit Amelie Kranz drückte ihre Hand auf seine Halsschlagader und wiederholte: »Er atmet nicht mehr.« Aber dann wurde ihr so furchtbar
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